piwik no script img

Archiv-Artikel

Es scheint, als sei Frieden eingekehrt

OSTUKRAINE Slawjansk war wochenlang in der Hand der Separatisten. Nun herrscht wieder die Armee. Die Einwohner schweigen

SLAWJANSK taz | Ljuba verkauft Zigaretten auf der Straße. Über die ukrainische Armee und die prorussischen Aufständischen will die alte Frau nicht sprechen. Sie ist einfach nur erleichtert, dass sie wieder in Ruhe in ihrem Haus schlafen kann. Während der Angriffe auf Slawjansk verschanzte sie sich im Keller des Hauses. Ljuba hat Angst, das Ganze könnte sich wiederholen.

Slawjansk, rund 90 Kilometer nördlich von Donezk, wirkt weder besonders lebendig noch ausgestorben. Bis vor einem Monat lieferte sich hier die ukrainische Armee heftige Gefechte mit prorussische Separatisten, die die Stadt wochenlang unter Kontrolle hatten. Dann wurde sie von der Armee eingenommen.

Es scheint, als sei Frieden eingekehrt. Telefonnetz, Internet und Fernsehen funktionieren wieder. Die öffentlichen Verkehrsmittel sind wieder in Betrieb, die Straßenbeleuchtung funktioniert zur Hälfte. Die Supermärkte erhalten Lieferungen. Ladenbesitzer ersetzen zerstörte Vitrinen durch neue.

Die Stimmung ist dennoch angespannt. Die Menschen eilen durch die Stadt und blicken zu Boden, um Augenkontakt zu vermeiden. Es scheint, als kämen sie permanent zu spät. Grund zur Eile gibt es aber nicht, nur wenige Geschäfte sind geöffnet.

Dafür stehen an jeder Ecke ukrainische Soldaten. Viele Gebäude sind in den Nationalfarben, Gelb und Blau, gestrichen. Auf Werbetafeln dankt man den ukrainischen Befreiern. Das Ganze wirkt surreal – der herrschende Frieden passt nicht zum Anblick der zerstörten Stadt.

Am Busbahnhof, dem Tor zur Stadt, gibt es viele Menschen, Busse fahren regelmäßig. Doch das Gebäude selbst wirkt apokalyptisch. Überall ist Zerstörung zu sehen, die Fenster sind eingeschlagen, wie an vielen Häusern hier. Meist sind sie mit Folie abgeklebt, Glas ist Mangelware.

Die Einwohner sind wortkarg. Viele drehen sich weg oder zücken ihr Handy, um nicht mit Journalisten zu sprechen. „Was wollen Sie? Wir wissen nicht, mit welcher Absicht Sie uns Fragen stellen. Das kann uns Probleme bringen“, erzählt eine Frau.

Junge Menschen sprechen auf der Straße meist über Geld. Wegen der anhaltenden Kämpfe konnten viele nicht arbeiten gehen und haben nichts verdient. Für viele stellt sich jetzt die Frage, wovon sie leben werden. Julia ist Friseurin, ihr Salon wurde zerbombt. „Kaum jemand lässt sich heute die Haare schneiden, die Menschen haben einfach kein Geld.“ Julia ist keine Patriotin. Auch ihre Freunde machen allein die ukrainische Regierung für die Situation verantwortlich. „Hätten wir unter normalen Umständen gelebt, wären hier auch keine Aufständischen aufgetaucht. Man hat die Menschen bis zum Äußersten getrieben, und jetzt wundert man sich noch, warum wir die Ukraine nicht lieben.“ ANDREJ NESTERKO

Übersetzung: Ljuba Naminova