: Der Frauenversteher
Die ehemalige Bundestagsabgeordnete Christina Schenk ist jetzt ein Mann
VON SIMONE SCHMOLLACK
Der Professor am Leipziger Klinikum sagte nur: „Ich kenne Sie aus dem Fernsehen. Da habe ich schon gesehen, dass Sie eines Tages bei mir landen.“ Das ist drei Jahre her, der Arzt ist Spezialist für Geschlechtsumwandlungen. Er berät Männer und Frauen, die sich fremd in sich selbst fühlen, die den Körper der Frau oder des Mannes, in den sie hineingeboren wurden, nicht annehmen können. Die Entscheidung, seine körperliche Identität zu wechseln, ist komplett privat, die Operation, die dies ermöglicht, ein äußerst intimer Vorgang. Und doch ist die Geschichte, die hier erzählt wird, keine private, sondern auch eine öffentliche, eine politische.
Vor dem Schreibtisch des Fachmanns saß Christina Schenk, die ehemalige Bundestagsabgeordnete. Von 1990 bis 1994 vertrat die Parteilose für den Unabhängigen Frauenverband (UFV) in der Gruppe Bündnis 90/Die Grünen als frauen- und gleichstellungspolitische Sprecherin die Rechte von Frauen und Mädchen. Und später, von 1998 bis 2002, war sie für die PDS, in deren Fraktion sie 1994 wechselte, Sprecherin der Homosexuellen. Damals war Christina Schenk mit einer Frau zusammen. Als erste Person überhaupt ließ sie in das Abgeordnetenhandbuch des Deutschen Bundestages schreiben: „lebt in lesbischer Lebensgemeinschaft“. Und nun ist aus Christina Schenk Christian Schenk geworden.
Ich habe schon immer gewusst, dass etwas falsch ist“, sagt Christian Schenk. „Als Kind sah ich ja, wer sich als Mädchen definiert und wer als Junge. Das stimmte mit meinem Bild von mir nicht überein.“ Er sitzt an einem großen Küchentisch in einer lichtdurchfluteten Dachgeschosswohnung hoch über Prenzlauer Berg in Berlin. Die Geschlechtsumwandlung liegt ein Dreivierteljahr zurück. Die Brüste, das augenscheinlichste weibliche Merkmal, sind verschwunden und lassen einen deutlichen Blick auf „die Wampe“ zu. Namens- und Personenstandsänderung sind seit dem Sommer vollzogen. „Passen Sie mal auf“, sagt Christian Schenk. Im Computer klickt er eine Datei an, die eine Stimme ertönen lässt. Es ist die von Christina Schenk, bevor sie männliche Hormone geschluckt hat: normal weiblich. „Und nach zwei Jahren hört sich das so an“, sagt er und klickt auf ein anderes Bild auf dem Schirm. Nach der Hormonbehandlung klingt die Stimme männlich sonor.
Die Haare auf den Unterarmen des Physikers und Sozialwissenschaftlers Christian Schenk sind gewachsen, an den Beinen sind sie zu ahnen. Nur der Bart lässt auf sich warten. Ansonsten aber sieht der Mann Christian immer noch aus wie die Frau Christina: kurzes, graues Haar, Jeans, Holzfällerhemd. Burschikos und herb. Im Gegensatz zu Männern, die in Frauenkörpern gefangen sind und sich heimlich Röcke und Blusen anziehen, musste sich Christina Schenk nicht als Mann verkleiden. Besonders weiblich ist sie nie gewesen. Nur die randlose Brille mit roten, blauen und weißen Streifen an den Bügeln fällt aus dem Rahmen. Die hat schon die Frau Christina getragen, der Mann Christian setzt sie weiterhin auf. „Alle sagen, Männer haben solche Brillen nicht“, meint er. Aber nur deswegen eine neue kaufen?
Das ist so eine Frage, die Christian Schenk derzeit umtreibt. Die meiste Zeit seines bisherigen Daseins hat er sich als Frau gezeigt, war als Frau sozialisiert und als Frau anerkannt. Er kennt die weibliche Lebensweise besser als die männliche. Das Besondere: Er hat für sie an oberster politischer Stelle gestritten. Soll er sich jetzt benehmen wie ein Mann? Und vielleicht Dinge tun, die er bislang abgelehnt hat? Schenk läuft nicht protzig und seine Oberarme stehen nicht breit vom Körper ab. „Stammtische mag ich immer noch nicht, und ein Auto reparieren kann ich auch nicht“, sagt er. Ist ja auch nicht nötig. Diese Männlichkeitsklischees sind längst überwunden. Andere wird er akzeptieren müssen. Als er mit seiner jetzigen Lebensgefährtin, einer Juristin, zu einem Fest des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe eingeladen war, erschien er noch als einziger Mann ohne Anzug. „Den“, sagt er, „muss ich mir jetzt wohl kaufen.“
Das ist eines der geringsten Probleme, die mit der Geschlechtstransformation für Christian Schenk einhergehen. Weitaus bestimmender für sein künftiges Leben ist die Tatsache, als Mann aus Zusammenhängen ausgeschlossen zu sein, für die die Frauenrechtlerin Christina Schenk einst gekämpft hat. Ein Frauencafé ist für Christian Schenk tabu, da darf er nicht mehr hinein. Die Lesbengruppe verweist ihn des Hauses, in der Frauendisco darf er nicht tanzen. Als Frau, Lesbe und Politikerin hat sich Christina Schenk ganz selbstverständlich in diesen Räumen bewegt, sie haben ihren Aktionsradius ausgemacht. Nach dem Identitätswechsel muss sich Christian Schenk nicht nur mit neuen Möglichkeiten vertraut machen, sondern auch mit plötzlichen Grenzen. Grenzen, die die Politikerin Schenk zu ihrer Zeit womöglich selbst gesetzt hat.
„Ich halte geschlossene Räume für Frauen nach wie vor für wichtig“, sagt Christian Schenk. „Ich werde mich weiter dafür ins Zeug legen. Nur nicht mehr so vehement wie früher.“ Bedeuten die neuen Hausverbote einen schmerzlichen Verlust? „Jetzt nicht mehr.“ Einen Identitätsverlust? „Nein, mit dem Perspektivwechsel der Geschlechter kenne ich mich gut aus.“
Jedes Mal, wenn die Politikerin Schenk am Rednerpult im Bundestag oder in der Fraktion das Wort ergriff und für Frauenrechte stritt, erinnert sich Schenk, feixte der Mann im Körper der Abgeordneten: Wenn ihr wüsstet! Die Frau hielt flammende Reden: gegen den Abtreibungsparagrafen 218, für gleiche Chancen von Frauen und Männern in Ausbildung und Beruf, gegen Gewalt gegen Frauen und Mädchen, für gleichen Lohn für gleiche Arbeit, für die Abschaffung des Ehegattensplittings und die Gleichstellung aller Lebensweisen.
Die Politikerin sagte aber auch: „Wenn es den Frauen besser gehen soll, müssen sich die Männer verändern.“ Sie sagte sogar: „Mir hat nie jemand erklären können, was das ist: Frauenpolitik. Wie sehen Rechte für Frauen aus?“ Das hätten Edmund Stoiber und seine CSU nicht besser bringen können. Konnte Christina Schenk so reden, weil sie schon immer Christian Schenk war? Es ist kurios und einmalig auf der bundesdeutschen Politbühne: eine Frauenpolitikerin, die eigentlich ein Mann ist.
Manche ihrer früheren Wegbegleiterinnen fühlen sich betrogen. „Jetzt ist mir klar, warum sie öfter Männer verteidigt und gefordert hat, sie zu bestimmten Debatten sprechen zu lassen“, sagt eine Frauenrechtlerin aus Frankfurt am Main, die auf keinen Fall namentlich genannt werden möchte. Sie bezeichnet sich selbst als Fundamentalfeministin. Da gab es beispielsweise den Streit über den Paragrafen 218. „Schwangerschaftsabbruch ist eine Sache, die beide Geschlechter betrifft“, sagte zu Beginn der 90er-Jahre die Feministin Schenk und hatte damit ein feministisches Tabu gebrochen: Bei einer Sache, die bis dahin allein den Frauen vorbehalten war, sollten jetzt Männer mitreden dürfen. Welch ein Verrat. Auf den Gedanken, dass Christina Schenk selbst ein Mann sein könnte, ist damals niemand gekommen.
Zugleich genoss die Politakteurin in der Frauenszene hohes Ansehen. Sie habe genau gewusst, was sie sagte und tat, betont Liz Schmidt, ein Urgestein der Westberliner Feministinnen. Als eine der wenigen Ostfrauen kannte Christina Schenk die feministischen Theoriediskurse der Westfrauen aus dem Effeff. In dieser Beziehung konnte ihr niemand am Zeug flicken. Liz Schmidt ist es egal, dass Chris nun ein Mann ist: „Wichtig ist doch die Person, die dahintersteht. Und die ist dieselbe geblieben.“
„Christina war stets offen und klar, sie hat für ihre Positionen gestritten. Manchmal vielleicht etwas zu verbissen“, sagt die Politikwissenschaftlerin Anne Ulrich. Sowohl die Feministin als auch die Politikerin Schenk galten immer als etwas sperrig und kompliziert. Regelmäßig legte sich Christina Schenk mit Frauen an, die „nur“ Frauenpolitik betrieben. „So funktioniert das nicht“, beharrt Christian Schenk auch heute. „Schließlich geht es um die Gleichstellung beider Geschlechter.“ Und um noch mehr: um Menschen wie Schenk selbst, um Transsexuelle. Doch mit denen ist so gar keine Politik zu machen. Das hat die Bundestagsabgeordnete lange vor dem Outing als Transmann bitter erleben müssen, als sie über eine Reform des Transsexuellengesetzes debattieren wollte. Jedes Mal, wenn sie die Sprache darauf brachte, rollten viele ihrer Kolleginnen und Kollegen mit den Augen: Nicht schon wieder! Soll die uns doch mit diesem Quatsch in Ruhe lassen. Kaum jemand wusste mit Christina Schenk und ihrem Dauerthema etwas anzufangen.
Fünfzig Jahre hat Schenk gebraucht, bis sie sich 2002 zum Outing als Transmann entschloss. Das Wissen um die uneindeutige Identität hatte sie fest in sich verschlossen. Jetzt fühlt Schenk sich angekommen bei sich selbst. Letztlich geht es offensichtlich doch immer um eindeutige Definitionen. Nur engste Vertraute hatten von ihrer Transsexualität gewusst. Kaum jemand will heute darüber reden. „Das wühlt zu viel auf“, sagt Schenks frühere langjährige Lebensgefährtin. Als Lesbe wollte sie eine Frau an ihrer Seite und hatte doch einen Mann.
Mit einem Mann lebt jetzt die neue Freundin von Christian Schenk zusammen. Die beiden lernten sich in der Berliner Lesbenszene kennen, vor dem Trans-Outing. „Es hat einfach bum gemacht“, erinnert sich die Lebensgefährtin. Es dauerte nicht lange, und die beiden zogen zusammen. Letztlich war es die Liebe zu der Juristin, die den Transformationsprozess bei Schenk ins Rollen brachte. Bei der Freundin fand Schenk starke Unterstützung. Aus dem lesbischen wurde ein heterosexuelles Paar. Damit einher ging nicht nur die äußere Verwandlung von Schenk, sondern auch eine Veränderung der Umwelt, die das Paar mitunter als kurios und komisch erlebt.
Die Freundin wird jetzt als „Gattin“ wahrgenommen. Einige ihrer männlichen Kollegen, für die sie früher die Lesbe war, sagt sie, baggern sie jetzt an: „So nach dem Motto: Da geht doch sicher was.“ Geht es aber nicht, denn aus der Lesbe ist nicht automatisch eine Heterosexuelle geworden, nur weil sie auf den Transmann Schenk getroffen ist. Die 43-Jährige wächst allmählich in ihre neue Rolle hinein und stellt sich Fragen, auf die sie als Lesbe nicht gekommen wäre: „Was, wenn der Bart beim Küssen kratzt? Wird Chris irgendwann riechen wie ein Mann? Wird er sich benehmen wie ein ruppiger Kerl? Erwartet man jetzt von mir, dass ich mich wie eine klassische Hetera aufführe?“ Das neue Leben an der Seite eines Mannes bedeutet auch für sie Abschied. Es verweigert ihr den Zutritt zur lesbischen Welt, der bis vor kurzem ihren Alltag bestimmte. An ihrem Empfinden Frauen gegenüber hat sich aber nichts geändert. Die Verbindung zwischen Schenk und ihrer Lebensgefährtin ist auch eine Schicksalsgemeinschaft.
Nach der Zeit im Bundestag hatte sich Schenk ins Privatleben zurückgezogen. Jetzt kehrt er auf die politische Bühne zurück. Künftig wird er sich bei LISA engagieren, der Frauenorganisation der Linkspartei. Ist das nun Ironie des Schicksals oder eher ein Witz der Geschichte? „Es ist folgerichtig“, sagt LISA-Sprecherin Christiane Reymann. „Wir brauchen fachkundige Expertise, Chris hat sie.“ Gregor Gysi, Chef der Bundestagsfraktion der Linkspartei und selbsternannter Feminist, hat sich immer gewünscht, die Welt mit den Augen einer Frau sehen zu können. Seine frühere Kollegin Christina Schenk hat er nie gefragt, was sie sieht. Vielleicht fragt er ja Christian Schenk.
SIMONE SCHMOLLACK, 42, freie Journalistin und Autorin, lebt in Berlin. Zuletzt erschien von ihr „Deutsch-deutsche Beziehungen. Geschichten von der Liebe zwischen Ost und West“, Berlin 2005, Schwarzkopf und Schwarzkopf, 256 Seiten, 9,90 Euro