: Zwischen Himmel und Erde
TODESBOTIN Der Überraschungserfolg aus London: Stephan Kelmans Milieuerkundung „Pigeon English“
VON ULRICH RÜDENAUER
Die Taube ist ein himmlisches Wesen, herabgesandt von oberster Instanz, den Heiligen Geist in sich tragend und mit allem Guten und Übersinnlichen ausgestattet, was man sich als Erdenkind nur vorstellen kann. Der kleine Harri Opoku ist so ein Kind, für das Tauben weniger eine innerstädtische Plage darstellen als vielmehr ein gutes Omen. Eine besonders wird ihm zur treuen Begleiterin; sie gurrt manierlich und klug, und sie kommentiert, was im wetterwendischen Leben alles geschehen kann.
Harri und die Taube pflegen eine enge Freundschaft, unterhalten sich immer mal wieder und treffen in entscheidenden, schicksalhaften Momenten aufeinander. Für Harri ist die Taube tatsächlich eine himmlische Mittlerin, eine Übersetzerin zwischen Wunsch und Realität.
„Pigeon English“ heißt schön doppeldeutig Stephen Kelmans Debütroman – sowohl das Gespräch mit der Taube klingt da an wie auch das sogenannte Pidgin English, eine rudimentäre Verkehrssprache zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunftsländer, die im Roman zu hören ist und sich in der sehr guten, um Rhythmus bemühten Übersetzung von Clara Drechsler und Harald Hellmann auch im Deutschen wiederfinden lässt. Harri Opoku ist elf Jahre alt, stammt aus Ghana und lebt seit Kurzem mit seiner Mutter und der älteren Schwester in einer ungemütlichen Londoner Neighbourhood, wo Gangs das Sagen haben und auch für kleine Jungs der Ernst des Lebens schon frühzeitig beginnt. Er ist ein schneller Läufer, und nicht nur einmal rettet ihn das vor den Schlägern des Viertels, die nicht umsonst X-Fire oder Killa heißen.
Vor „Chicken Joe’s“ findet man eines Tages einen toten Jungen, erstochen, oder wie Harri sagen würde: „gemessert“. Harri war mit dem Toten „so halb und halb befreundet“, und er beneidete den etwas Älteren unter anderem dafür, freihändig Fahrrad fahren zu können. Der gewaltige Blutfleck vor dem Imbiss nimmt Harri ziemlich mit.
Und als die Polizei den Tätern auch nach Tagen nicht auf die Spur kommt, übernehmen Harri und sein Freund Dean die Ermittlung. Stephen Kelman hat einen Zwitterroman geschrieben: halb Jugendbuch, halb Milieuerkundung mit Krimielementen. Das Ganze ist aus der Perspektive des Elfjährigen erzählt, was den Reiz, aber auch ein wenig das Problem des Buchs ausmacht: Mit den Augen eines Kindes betrachtet, mutiert die Welt zum Wunder. Vieles wird zum ersten Mal gesehen und bleibt ganz sinnlich, unverdorben vom Rationalen. Aber eben auch ein bisschen banal. Unerklärlich sind für den Jungen die Riten, die von den Älteren bereits nicht mehr hinterfragt werden; seltsam auch – vor allem für ein Migrantenkind – die Feinheiten der Sprache: „In England gibt es für alles höllenviele verschiedene Wörter. Damit du, wenn du eines vergisst, immer noch Ersatz hast. Das ist unheimlich praktisch. Schwul, doof und bescheuert heißen alle das Gleiche. Pissen, Strullen und Schiffen bedeuten alle das Gleiche (das Gleiche wie den Porzellangott grüßen).“
Der mitunter gewiefte, manchmal lustige Kinderblick, der sich auf seine Umgebung, den Tatort und damit seine neue Heimat richtet, bringt etwas zum Vorschein, was weit über das Gesehene und Geschehene hinausweist: eine Art moralische Haltung, die in Naivität verpackt ist, aber umso rührender vom richtigen Leben im falschen erzählt.
Das nimmt kein gutes Ende
Das macht den Charme des Buches aus; das ist der Grund, warum „Pigeon English“ für den 34-jährigen Kelman ein riesiger Überraschungserfolg und in 18 Länder verkauft wurde. Der Effekt, der bei allem Raffinement und allen hellwachen Beobachtungen erzeugt wird, hat auf die Dauer aber etwas Enervierendes. Die Sprache wirkt in ihrer Unvollkommenheit fast zu perfekt, der Junge zu altklug. Wenn ein Autor sich auf eine Kinderperspektive zurückzieht, kann das entweder ein genialer Kunstgriff sein – oder doch eben auch auf eine etwas beschränkte Weltsicht verweisen.
Kelmans Roman nimmt im Übrigen Bezug auf einen Fall, der sich vor einigen Jahren in London ereignet hat. Damals wurde der zehnjährige Nigerianer Damilola Taylor von zwölfjährigen Kids angegriffen und erstochen; er verblutete erbärmlich auf einer Treppe. Damilola Taylor war ein aufgeweckter, immer lächelnder Junge, hieß es in Presseberichten, und Harri ist ihm darin nachempfunden. Man ahnt, es nimmt kein gutes Ende. Je näher wir dem Schluss des Buches rücken, desto deutlicher wird: Die Taube ist nicht nur Harris guter Geist, sondern auch eine Todesbotin – sie vermittelt zwischen Dies- und Jenseits, und das Unheil kommt ganz überraschend, „aus dem Nichts“. Manchmal kann man vor diesem Unglück nicht mehr davonrennen, auch wenn man der schnellste Läufer der Schule ist.
■ Stephen Kelman: „Pigeon English“. Aus dem Englischen von Clara Drechsler und Harald Hellmann. Berlin Verlag, Berlin 2011, 298 Seiten, 19,90 Euro