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Archiv-Artikel

„Puntila ist ein rächender Gott“

Tagesaktuelle Bezüge interessieren ihn kaum, und als politischer Regisseur versteht er sich auch nicht: Michael Thalheimer, bekannt für seine fast archaischen Zuspitzungen von Handlung und Figuren, inszeniert Bertolt Brechts „Herr Puntila und sein Knecht Matti“ am Hamburger Thalia Theater

MICHAEL THALHEIMER, 41, am Deutschen Theater Berlin, wurde 2000 durch „Liliom“ am Thalia bekannt.

VON PETRA SCHELLEN

taz: Herr Thalheimer, inszenieren Sie „Puntila“ im Brecht‘schen Sinne als Kapitalismuskritik?

Michael Thalheimer: Ich empfände es als verfehlt, es ausschließlich als Kapitalismuskritik zu inszenieren. Denn das Stück ist kein klassisches Lehrstück von Brecht, es malt nicht im klassisch brechtschen Sinne Schwarzweiß. Es ist assoziativer, also nicht so konsequent politisch wie die klassischen Brecht‘schen Lehrstücke. Das liegt auch daran, dass „Puntila“ auf einer Erzählung der finnischen Autorin Hella Wuolijoki basiert, auf deren Gut er während seines finnischen Exils eine Zeit lang lebte. Es ist also nicht sein eigenes Thema, sondern er hat den Stoff im Sinne des epischen Theaters verändert, ohne ihn aber komplett mit Kapitalismuskritik zu überfrachten. Abgesehen davon glaube ich nicht, dass es heutzutage für ein Theater noch abendfüllend wäre, ein Stück auf Kapitalismuskritik zu reduzieren.

Was ist denn dann abendfüllend: Die Figur Puntilas? Was fesselt Sie an ihm?

Seine Zerrissenheit. Die Tatsache, dass er ein Mensch ist, der die Welt und sich selbst nicht aushält und deshalb versucht, sich durch den Alkoholrausch für andere ertragbar zu machen. Zugleich wird die Welt durch den Rausch für ihn selbst erträglicher. Mich fesselt die Tatsache, dass er sich einerseits fast egomanisch-faschistoid selbst liebt und sich als Maß aller Dinge ins Zentrum stellt – und gleichzeitig daran zerbricht und all dies an sich selbst nicht mag. Eigentlich ist er ein zutiefst einsamer Mensch.

Ist er aufgrund seiner Persönlichkeit zerrissen oder wegen seiner Schichtzugehörigkeit?

Soziale Hierarchie spielt natürlich eine große Rolle, weil ihn seine Stellung als Großgrundbesitzer über andere stellt. Er kann mit Menschen spielen, was andere mit ihm so nicht können. Das wird möglich durch die sozialen Unterschiede. Aber es wäre zu banal, Puntilas Verhalten ausschließlich seiner Schichtzugehörigkeit anzulasten. Nicht jeder Mächtige wird einsam und zerrissen enden. Bei Puntila sind es schon sehr persönliche Dinge, die zu diesem Verhalten führen. Aufschluss hierüber geben zum Beispiel die vielen Bibelzitate, die Brecht in dieses Stück eingebaut hat. Sie offenbaren einiges über die Frage, als was sich Puntila sieht. „Was bin ich für einer?“ fragt er Matti. Und es zeigt sich, Puntila betrachtet sich fast als gottgleich, weil er sich so stark ins Zentrum rückt. Denn er hat sein eigenes Weltbild und sein eigenes Wertesystem, das man aus heutiger Sicht schon fast als alttestamentarisch bezeichnen könnte. Er ist ein rächender Gott. Eine archaische Figur.

Ist er also erstarrt? Dazu verurteilt, auf ewig derselbe zu bleiben?

Ich glaube, dass er im Begriff ist, sich selbst abzuschaffen, und das wissentlich, vom Beginn des Stücks an. Denn wenn man das Stück als Roman betrachtete, würde man sagen, er schlägt zu Stückbeginn das letzte Kapitel auf.

Sich abschaffen – was heißt das?

Er zerbricht daran, dass er sich selbst in dieser Welt nicht aushält. An der daraus resultierenden Einsamkeit, an dem Schmerz.

Wer hat von beiden die reale Macht? Puntila oder Matti, der die Verhältnisse durchschaut?

Die reale Macht hat natürlich Puntila. Durch seinen Besitz. Aber Matti ist trotzdem nicht ohnmächtig gegenüber dieser Macht, weil beide – Herr und Knecht – einander bedingen. Es ist ein symbiotisches Verhältnis. Matti durchschaut Puntila im Verlauf des Stücks immer mehr. Er wird eine immer autarkere Figur, die aber auch allein zurückbleibt, wenn Puntila nicht mehr da ist.

Ist auch Matti einer, der sich selbst abschafft? Archaisch?

Er ist wandelbar. Er ist weder archaisch noch im Begriff, sich abzuschaffen. Matti bleibt. Die große Frage ist: Wohin wird es Matti nach diesem Stück treiben? Und was ist Matti ohne Puntila? Was ist die Welt ohne Puntila? Ohne das alte Wertesystem? Man kann froh sein, dass das alte Wertesystem, für das Puntila steht, abgeschafft wird, aber es bleibt die Frage: Welches Wertesystem kommt dann? Woran könnte sich ein Mensch wie Matti dann festhalten? Ich weiß nicht, ob die Welt nach Puntila besser sein wird.

Worauf liegt der Fokus Ihrer Inszenierung? Auf der Untersuchung Puntilas als Typus oder auf dem Moment der Abschaffung eines Wertesystems?

Das ändert sich im Verlauf des Stücks. Zu Beginn ist das Zentrum Puntila. Matti kommt erst später dazu, und Matti wird als Figur immer angefüllter, immer reflektierender. Er wandelt sich. Und parallel verschiebt sich das Zentrum des Stücks.

Das Stück gewinnt also an Dynamik, sowie der Fokus von Puntila weggeht?

Das mit der Dynamik stimmt nicht ganz. Denn Puntila hat als Typus natürlich eine unglaubliche Dynamik.

Wollen Sie auch ausloten, wie weit Menschen aus ihren Verhaltensmustern herauskönnen?

Ja. Und das betrifft alle Figuren. Im Stück wird immer wieder die Möglichkeit spürbar, etwas anderes zu behaupten als das, was als Leben vorgegeben scheint. Der Gedanke scheint bei etlichen von ihnen auf, aber die reale, grundlegende Veränderung schafft keiner. Und genau das macht einen Typus wie Puntila andererseits wieder so sympathisch: dass er voll auf das Leben zugreift. Dass er keine Rücksicht nimmt. Dass er das Leben in allen Varianten, im Schmerz wie in der Euphorie, vollstens genießt – das gelingt nur Puntila. Diese Kompromisslosigkeit, diese Radikalität macht ihn sympathisch. Thema des Stücks ist also durchaus die Verhaftung im Immergleichen. Verknüpft mit der Frage: Kann man aus diesem Leben, aus diesem Zustand, aus diesen Hierarchien ausbrechen – oder sind sie von Gott gegeben?

Haben Sie persönlich während der Probenarbeit etwas Überraschendes gefunden?

Ja, durchaus: dass Brecht immer wieder durch eine Hintertür hereinkam.

Heißt das, die Inszenierung wurde immer wieder politisch, obwohl Sie das nicht wollten?

Ich würde ohnehin nicht sagen, dass ich ein ausgewiesen politischer Regisseur bin. Sonst hätte ich wohl schon öfter Brecht inszeniert. Aber es war nicht so, dass ich mich gegen die politische Aussage des Stücks gewehrt hätte. Ich war positiv überrascht, dass Brecht immer wieder massiv auftauchte. Egal, welche Wege man geht – man kommt immer wieder zu bestimmten Punkten zurück. Und das hat natürlich etwas mit dem politischen Theater von Brecht zu tun.

Premiere: Sa, 10.3., 20 Uhr, Thalia Theater, Hamburg