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Archiv-Artikel

Prähistorisches Networking

Wertvolles Material zur Ethnografie der Boheme: Das Adressbuch Heinrich Manns aus den Jahren 1926 bis 1940 ist als Faksimile erschienen. Prima Sache! Denn was Internationalismus und Crossover von Branchen und Szenen angeht, macht dem alten Herrn auch heute noch kaum einer was vor

VON MICHAEL RUTSCHKY

Die prekären Lebensformen der Boheme führte diese selbst immer wieder in allen Formaten vor, als Oper, als Roman; schöne nackte Damen, wie sie der Künstler angeblich jeden Tag zu sehen und zu fassen bekommt, in Bronze, in Öl und als Fotografie. Die Boheme war immer gut in Selbstreklame; sie siedelte angeblich ja in der Schönheit und Freiheit des Waldes draußen, während der angepasste Bürger willenlos und gehorsam dem disziplinierten Leben drinnen unterlag.

Das Adressbuch, das Heinrich Mann von 1926 bis 1940 führte und das der Verlag Koehler & Amelang faksimiliert und kommentiert jetzt herausgebracht hat, schön mit Fotos angereichert und durch ein Register extra erschlossen, dies Adressbuch bietet wertvolles Material zur Ethnografie der Boheme, der die Bourgeoisie ebenso wie das Kleinbürgertum des 20. Jahrhunderts in puncto Tagträume ebenso wie Lebensstil so viel verdankt.

Da ist beispielsweise der Internationalismus. Heinrich Manns Adressbuch verzeichnet Leute in Paris und in Prag, in Madrid und in Buenos Aires, in Mailand und in New York. Dr. Egon Wertheimer, London W.C. 1, 22 Mecklenburgh Square. M. et Mme. Régitz, 73 rue Charles Dupuy, Bois-Colombes. Leonhard Frank, Ascona, Hotel Monte Verità. Man malt sich aus, welchen Hass, vor allem Neid diese vaterlandslosen Gesellen sogleich in einem treudeutschen Kleinstädter erweckten, den schon die Reise nach Berlin in Panik stürzte. Der Schriftsteller vom Typus Heinrich Mann, musste er denken, nimmt teil an einer internationalen Verschwörung, denen die Einheimischen hilflos ausgeliefert sind.

So etwas wie Internationalismus, ein Crossover betreffend Branchen und Szenen bestimmt das Leben der Boheme auch im Hinblick auf ihre Arbeiten. Wer vom Schreiben von Romanen lebt, hat noch auf viele andere Orte zu schauen. Lessing-Theater, Friedrich-Karl-Ufer 1, Berlin-Tiergarten. Verband Filmautoren, Mainzer Str. 19, Berlin-Wilmersdorf. Börsen-Courier, Beuthstr. 8, Berlin-Mitte. Der kleine Mann, der im Lande, der Schuster, der bei seinen Leisten bleibt und sich redlich nährt, der Dichter, der Blut und Boden besingt und eine Domäne im Ostwestfälischen bewirtschaftet, ihnen erschien das alles als Verrat und Entfremdung. Wenn man heute die Globalisierungsgegner die Kraft und Schönheit lokaler Ökonomien preisen hört, dringt manchmal eine Ahnung von diesem Muff durch – freilich organisieren sich die Globalisierungsgegner selbst als internationale Boheme.

Den stärksten Reiz strahlte auf den Bürger das Liebesleben der Boheme ab, und hier ließ sich Heinrich Mann nicht lumpen. Der Professor Unrat, wie er der flotten Lola (Marlene Dietrich) vom „Blauen Engel“ verfällt, muss eine Selbstkarikatur beinhalten. Ein jeder Jüngling hat nun mal ’nen Hang zum Küchenpersonal; die „Heinrichbräute“, wie sie in der Familie hießen, ein Typus großherzig-verschlampter Mamsell, begleitete ihn sein Leben lang. Auf den abschließenden Notizblättern des Adressbuchs findet sich als vielsagende Liste: 7. März Felicitas, 2. April Rosamunda, 8. Mai Rosaura, 10. Mai Antonia, 18. Mai Isabella, 22. Mai Helena, 5. November Blandina, 1. Dezember Anabella. Der gealterte Jüngling muss den Damen in gemessen-zeremoniöser Manier näher gekommen sein, was man sich hochkomisch vorstellen darf; inzwischen kann man die ordinär-erotischen Zeichnungen bewundern, zu denen ihn dies Küchenpersonal inspiriert hat. Apropos Familie: Außer dem Bruder Vik-tor (Viko 22 887, die Telefonnummer) findet sich kein Mitglied in dem Adressbuch. Wo ist Tommy? Wusste Heinrich Mann die Nummern und Anschriften auswendig? Oder regelte sich der Kontakt anders?

So deutlich das Adressbuch ein Bild davon gibt, wie ein Schriftsteller dank seiner Vernetzung ein prekäres Dasein intelligent zu gestalten weiß, so einschneidend muss man sich den Schrecken und den Schock vorstellen, den die Exilierung 1933 auslöste – eine unsichtbare Spur der Vernichtung, denn die heimeligen Berliner Adressen stehen ja immer noch da, Heinz Ullstein, Goebenstr. 56, Gottfried Benn, Belle-Alliance-Str. 12. Letzterer war es bekanntlich, der kurzfristig Chefdichter und -denker der Nazis werden wollte und den literarischen Emigranten an ihrem südlichen Meer Schmähungen nachrief (was ihm 1945 schwere Vergeltungsängste eintrug). 1931 hatte er Heinrich Mann zu seinem 60. Geburtstag als Stilisten gefeiert. – Im Exil verlieren die ausländischen Adressen die Aura von Sicherheit und Souveränität und verwandeln sich in Hilfe- und Notrufe.

Ein schönes Buch, diese von Christine Fischer-Defoy sorgsam kommentierte Adressensammlung. Die Lektüre prozediert, wie man es sich einst von gewissen Experimentalromanen und dann vom sog. Hypertext erwartet hat, nicht linear, sondern kursorisch, stochernd, springend. Man widmet sich dem Faksimile, das ans Trompe l’oeil grenzt mit der exakten Papierfarbe und den Bleistiftschriftzügen, man studiert die ausradierten Stellen; man liest die Umschrift mit den Kommentaren, formal gesehen eine Liste, die dem Alphabet folgt, innerhalb des jeweiligen Buchstabens aber nicht, weil beispielsweise Käte Knorr-Dressler (Potsdamer Privatstr. 121 D, Potsdam) früher ihren Platz fand als Hermann Kesten (Niebuhrstr. 58, Berlin-Charlottenburg). Einen tiefen poetisch-historiografischen Reiz üben natürlich die Namen und Adressen aus, welche Unbekannte bezeichnen, die kein Kommentar aus ihrer Existenz erlöst. Anna Schuster, Winzererstr. 22, München. Fritz Kausek, Vinohrady, Fochova trida 26, Prag. Zoubalof, 50, rue Molitor, Paris XVI. Den unbekannten Toten.

Eine solche Rezension pflegt mit dem Hinweis zu schließen, dass biografisches Material zu einem Schriftsteller dann und nur dann von Nutzen sei, wenn es zu erneuter Beschäftigung mit dem Werk führe. Keineswegs. Der Verlauf der Zeit ist Heinrich Manns Prosa schlecht bekommen; das schweifend Flüchtige und zugleich allzu Großformatige macht viele seiner Romane ungenießbar – und dass der Wilhelminismus eine unglückliche Epoche war, das braucht man nicht anhand von „Der Untertan“ und „Professor Unrat“ wieder und wieder zu repetieren.

Aber die Person Heinrich Manns, wie sie aus diesem Adressbuch hervortritt, lohnt die Beschäftigung.

Heinrich Mann: „ ‚Auch ich kam aus Deutschland …‘ Das private Adressbuch 1926–1940“. Herausgegeben und kommentiert von Christine Fischer-Defoy. Koehler & Amelang, Leipzig 2007, 276 Seiten, 24,90 €