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Archiv-Artikel

Unbegreifliches Spektakel

CHAMPIONS LEAGUE Schalke, eben noch ein veritabler Krisenklub, ist nach dem 5:2-Erfolg in Mailand auf dem besten Weg, den Titelverteidiger im Viertelfinale zu eliminieren

AUS MAILAND TOM MUSTROPH

Das Meazza-Stadion ist ein guter Ort für Königsblau. 1997 drehten die Eurofighter um Marc Wilmots und Olaf Thon hier dem favorisierten Inter Mailand eine Nase und entführten den Uefa-Cup. In einer spektakulären Pokalschlacht am Dienstag nahmen ihre Nachfolger den mittlerweile zum Champions-League-Sieger geadelten Rivalen so auseinander, wie es eine gut trainierte Nachwuchsauswahl mit einer ambitionierten Thekenmannschaft tun würde. Schalke siegte 5:2 und steht mit einem Fuß sowie den Zehen und Hacken des anderen im Halbfinale.

Schalkes magische Nacht begann mit einem wild gewordenen Rasensprenger und endete in einer Bierdusche. Gerade noch rechtzeitig vor dem Anpfiff gelang es den Gärtnern des Meazza-Stadions, einen wild rotierenden Rasensprenger abzustellen. Sie wirkten dabei ähnlich unsicher wie später die Defensive der Hausherren. Als alle Mailänder Fans schon längst enttäuscht das Weite gesucht hatten, standen Schalkes Anhänger noch freudetrunken auf dem Stadionvorplatz und ließen sich das Bier in die Kehlen und über die Haare laufen.

Zur gleichen Zeit hatten die Protagonisten des Wunders Mühe, das Geschehene zu verarbeiten. „Ich muss erst einmal begreifen, was hier gelaufen ist“, rang der Gelsenkirchener Gesamtschüler Joel Matip um Fassung. Auf dem Spielfeld war der Ersatzinnenverteidiger bei weitem nicht so durcheinander wie bei der späteren Einordnung der Ereignisse. Seiner Reaktionsschnelligkeit war der 1:1-Ausgleich zu verdanken.

„Fast unvergleichlich“ fand Raul die 90 Minuten. Angesichts der langen Karriere des Spaniers, die er mit seinem 71. Tor in Europapokalspielen auf ein Rekordniveau hob, verzeiht man ihm gern die Einschränkung „fast“. Er war Schalkes bester Mann. Nach dem schnellen Führungstreffer von Inter hielt der Routinier seine Mannschaft zusammen. Er holte sich Bälle tief aus der eigenen Hälfte, war mit zwei Kopfbällen aber auch gefährlich vor dem Inter-Tor. An ihm konnte sich das Team in einer Phase der Unsicherheit aufrichten. „Wir wollten gewinnen. Aber mit einem solchen Sieg haben wir nicht gerechnet“, war selbst Ralf Rangnick verblüfft. Nach dem frühen Gegentor schwante dem Schalke-Trainer Schlimmes. „Doch wir haben die Ruhe behalten und waren in der zweiten Halbzeit taktisch und physisch überlegen.“

Seinen grandiosen Triumph verdankte Schalke freilich auch der Alles-oder-nichts-Mentalität von Inter. Trainer Leonardo warf seine Männer in einer Harakiri-Taktik nach vorn. „Wir mussten in dieser Saison einen großen Rückstand aufholen. Es gab für uns nur Siege als Ziel“, wies er mit heiserer Stimme auf die Routine der letzten Wochen hin, in denen Inter ein prächtiges Spektakel geboten hatte. Dienstagnacht gebar diese Hurra-Haltung aber eine Art Straßenfußball mit Verteidigungstabu für das Offensivtrio Sneijder, Milito und Eto’o und scheunengroßen Löchern vor dem eigenen Tor. Dieses Resultat verzeiht ihm die italienische Presse nicht.

„Er ist ein Motivator für den Übergang, aber kein Trainer“, kanzelte ihn die Gazzetta dello Sport ab. Während Trainerkomet Leonardo zu verlöschen droht, kann sein Gegenüber sich als Wunderheiler fühlen. Auf ihm lastet nun der Druck, den Vorsprung aus dem Hinspiel auch zu verteidigen, um nicht als der Depp der Nation ein weiteres Kapitel in dem großen europäischen Fußballbuch zu eröffnen.