Die Sicht auf ein Jahrhundert

LESUNG Am Wochenende las Nino Haratischwili im Museum Europäischer Kulturen in Berlin aus ihrem neuen, heute erscheinenden Roman „Das achte Leben (Für Brilka)“

VON CHRISTIANE PÖHLMANN

„Supra – Feiern auf Georgisch“, das ist das Motto der diesjährigen Kulturtage im Museum Europäischer Kulturen in Berlin. Die Supra ist ein traditionelles Fest, die Ausstellung widmet sich in Exponaten und Schwarz-Weiß-Fotografien der Weinkultur, das Rahmenprogramm ist bunt. Am vergangenen Wochenende hat Nino Haratischwili dort gelesen. Aus ihrem letzten Roman „Mein sanfter Zwilling“ und aus dem „Roman, der nächste Woche erscheint“, so die fast durchgängige Umschreibung für ihr groß erwartetes Buch „Das achte Leben (Für Brilka)“.

Fast hätte man meinen können, einer klandestinen Veranstaltung beizuwohnen, dabei hat alles eine simple Erklärung: Die offizielle Präsentation des neuen Romans findet heute in Frankfurt statt. Das neue Buch ist freilich bereits Thema, Haratischwili in Gedanken auch selbst eher bei diesem Werk als beim „Sanften Zwilling“, mit dem sie die Lesung eröffnete.

Und die hatte es in sich. Wenn man die Augen schloss, nur die Stimme wahrnahm, dann hörte man einen ganz leichten norddeutschen Akzent. Öffnete man dann die Augen, nahm die Vorleserin visuell wahr, dann sah man eine schwarzhaarige Frau mit dunklen Augen, überhaupt nicht nordisch.

Es sind Momente wie dieser, die direkt hinführen zu einem ihrer großen Themen, der Frage nach Identität, Zuschreibung, Fremd- und Selbstbestimmung. Die auch hinführen zu der Frage nach der eigenen Wahrnehmung. Nino Haratischwili, 1983 in Tiflis geboren, besuchte dort eine Schule mit erweitertem Deutschunterricht, ging als Mädchen zwei Jahre in der Bundesrepublik zur Schule, gründete in Georgien eine deutsch-georgische Theatergruppe und lebt seit 2003 in Hamburg. Sie kann mit einem Lachen darauf antworten, wenn sie nach den autobiografischen Elementen in ihrer Prosa gefragt wird, scheint sich damit abgefunden zu haben, immer genau danach gefragt zu werden, egal, was sie veröffentlicht.

Dieses Lachen tut gut. Als ob der Reiz oder einer der Reize bei der Lektüre nicht darin läge, neue Welten, Leben und Identitäten zu entdecken. Oder zumindest eine neue Sicht auf das eigene Hier und Jetzt. Als ob es nicht auch beim Schreiben darum gehen könnte, sich ein wenig hinter das eigene Hier und Jetzt vorzuwagen, die „Geschichten hinter den Geschichten“ zu suchen, wie Haratischwili es in dem Roman, der nächste Woche erscheint, ausdrückt.

Bereits im „Sanften Zwilling“ spricht die Ich-Erzählerin Stella von den „bunten Fäden der Welt. Die Geschichten, verwoben zu einem Ganzen, das Schmerz hieß.“ Sie charakterisiert damit ebenso ihre tragische Liebe zu Ivo wie ihre eigene Position in der Welt: Sich selbst zu verstehen ist nur möglich, wenn man sich nicht nur im Hier und Jetzt, sondern auch im Gestern und Dort begreift.

Im „Achten Leben“ wird diese Position noch dezidierter als Thema präsentiert. Schon das Motto, ein georgisches Sprichwort, weiß, dass die Zeiten herrschen, nicht die Könige. Auch hier gibt es wieder Fäden, die Fäden eines Teppichs, die stellvertretend für Menschen und ihre Geschichten stehen. Und das Ausgreifen in Raum und Zeit ist beeindruckend und schwungvoll: Ein Jahrhundert wird abgehandelt, mehrere Länder sind Schauplatz des Geschehens. Sicher, es geht auch um das Verhältnis zum Geburtsland, explizit sogar: „Als Letztes will ich noch hinzufügen, dass ich trotz meines jahrelangen Kampfes um und mit diesem Land es nicht geschafft habe, es zu ersetzen, es mir auszutreiben, wie einen bösen Geist, der einen befallen hat.“

Es geht aber auch um Familienverhältnisse, die Liebe zu Büchern, Tanz, Schokolade, Geschichte und Geschichten. Es geht um das Pathos und die Schnoddrigkeit, mit der all das vorgetragen wird. Es geht darum, Fragen zu stellen, dies war sogar eines der Initialmomente für den Roman: dass niemand danach gefragt hat, was es mit den Knochen auf sich hatte, die auf Berias einstigem Anwesen ausgegraben wurden.

Was das für ein Jahrhundert war, „das alle betrogen und hintergangen hat, alle die, die hofften“. All diese Zitate finden sich bereits im Prolog, aus dem Haratischwili vorlas. Der Roman wird diese Fäden weiterweben, wird sich durch ein Jahrhundert spinnen müssen. Der Auftakt ist jedoch vielversprechend, die Sicht auf ein Jahrhundert – nicht nur auf den eigenen Bauchnabel – ebenso. Und wohltuend.