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Archiv-Artikel

Glücklich werden mit dem Abfall der Welt

Kreatives Recycling: In einer Neuköllner Galerie lernen Kinder, aus Müll nützliche Dinge zu basteln – ganz nach dem Vorbild afrikanischer Kunst

Hier werden Pizzaschachteln zu Masken und alte Socken zu Puppen

VON VERA BLOCK

Leere Dosen, zerknüllte Folien und Papierschnipsel quellen über die Ränder eines riesigen Pappkartons gleich am Eingang der Galerie am Körnerpark in Neukölln. Doch die Kiste ist kein gigantischer Abfalleimer, sondern eine Art Wundermülltüte für rund zwei Dutzend Kinder. Etwa für den neunjährigen Hadi. Er wühlt in dem Karton herum und kommt, als er eine zerquetschte alte Milchtüte findet, auf eine nicht ganz gewöhnliche Idee: „Man kann daraus ein Teleskop machen … Da muss ich ein Viereck ausschneiden, einmal hier und einmal da … Dann könnte ich alles sehen.“

Die Räume der Galerie sind voll mit Müll – beziehungsweise mit dem, was aus dem Müll wurde, nachdem Kinder ihn in die Hände gekriegt haben. In den Vitrinen, Regalen und auf den Tischen stehen Objekte, die nur auf den zweiten Blick ihren Ursprung erkennen lassen: ein buntes Kissen aus Stoffresten etwa oder ein Roboter aus Klopapierrollen und Kronenkorken.

Seit Mitte Januar versuchen die Macher der Projekts „Recup“, die Balance zwischen Müllhalde und Ausstellungssaal zu halten. Den Kindern wird beigebracht, ausgediente Sachen nach afrikanischem Beispiel mit neuem Leben zu erfüllen. „Art de la Récupération“ heißt in Afrika die Kunstrichtung, die sich mit der Wiederverwertung von Abfall beschäftigt. Wobei es nicht um das bloße Recyceln vom wiederverwertbaren Rohstoff geht, sondern um den kreativen Umgang mit dem Material, das bereits ein erstes Leben als industrielles Produkt hatte.

Denn das, was in Spendencontainern der westlichen Wohlfahrtsgesellschaft landet, findet sich in Afrika längst nicht nur auf den Märkten, sondern auch in Künstlerateliers wieder. Im Gegensatz zu Europa, wo Künstler den Abfall meist nur als kritischen Maßstab im Kreuzzug gegen die Industrialisierung betrachten, besetzt man in Afrika das Material schlicht mit neuer Bedeutung, erklärt Dorothea Kolland, die Leiterin des Neuköllner Kulturamts, dem die Galerie untersteht.

Die Heiterkeit und die Stärke der neuen afrikanischen Kunst, „die Unverschämtheit und die Frechheit, mit der sie mit Material umgehen“, nahm die Kunsthistorikerin zum Anlass, sich genauer mit dem Thema Abfall zu beschäftigen. Sie entwickelte ein Projekt, in dem der künstlerische und der pädagogische Aspekt gleichberechtigte Rollen spielen. In Neukölln, dem Bezirk, in dem die meisten Migranten aus Afrika in Berlin leben, war es ein Leichtes, Künstler, Pädagogen und Musiker zu finden, die in Workshops das kreative Wissen ihrer Herkunftsländer an Kinder weitergeben können.

Beteiligt ist zum Beispiel die Psychologin und Kulturmanagerin Titi Baneck, die aus dem Kongo stammt. Die Arbeit in den Récup-Workshops hat für sie weniger mit Kunst zu tun, sondern vielmehr mit Integration und Kulturbegegnung: „Kinder kommen hierher und erfahren etwas über Afrika. Sie erfahren, was Abfall eigentlich ist. Und sie lernen, damit was Sinnvolles zu machen.“ So werden mit Zeitungspapier umwickelte Luftballons zu Fußbällen, Pizzaschachteln zu Masken und alte Socken zu Puppen.

Doch es geht bei den Récup-Workshops nicht nur darum, die Kinder für den Umgang mit Müll zu sensibilisieren, sagt Angela Fischer, die das Projekt von Anfang an betreut. Das Ziel sei auch, die motorischen Fähigkeiten der Kinder anzuregen und ihnen zu ermöglichen, selbst kreativ etwas zu gestalten.

Die neunjährige Vivien hat aus einer grauen Socke eine Puppe gebastelt. „Wir haben die Strümpfe gestopft und dann die Augen und die Arme angenäht“, zählt sie bedächtig die Arbeitsschritte auf. Die Puppe heißt Lisa; Vivien zupft ständig an ihr herum, flicht Zöpfe, rückt das Kopftuch zurecht. Lisa sei eine Albanerin, erklärt Vivien die Kopfbedeckung. Dass die Puppe keine Beine, sondern einen dicken Knoten unter dem Rock hat, stört das Mädchen ganz und gar nicht. Zu Hause hätte sie auch eine Barby-Puppe – aber zurzeit ist die selbst gemachte Lisa einfach unschlagbar: „Ich würde sie in mein Bett nehmen, wenn ich schlafe“, sagt sie und drückt die gestopfte Socke an die Wange.

Während der drei Workshop-Stunden versuchen Kinder und Pädagogen, mit möglichst wenig Hilfsmaterial auszukommen. Genau wie in Afrika: keine Klebepistolen, keine Tacker, keine Nägel. Wenn welche gebraucht werden, muss man sie aus Draht basteln. Doch dieses Hindernis scheint für viele Kinder fast unüberwindbar. Ohne Hilfsmaterial und detaillierte Anweisung zu einem brauchbaren Ergebnis zu kommen – das kennen sie nicht. Und bringen damit afrikanische Pädagogen zur Verzweiflung. „Sie haben richtig zu kämpfen“, stellt Kofi Asamoah fest. Der ghanaische Musiker führt im Rahmen des Projekts Trommelworkshops durch. Er bastelt Rasseln und Trommeln aus Joghurtbechern, die mit Reis gefüllt werden und ordentlich Krach machen. Zu seinem Erstaunen sei kaum eines der Kinder imstande gewesen, ohne Rat und Vorgaben aus den vorhandenen Utensilien ein auch noch so primitives Musikinstrument herzustellen. Wirklich erwartet hat Kofi Asamoah das auch gar nicht – schließlich würden die Kinder zu Hause unentwegt am Computer oder vor dem Fernseher sitzen.

Doch manchmal entstehen in den Workshops tatsächlich ausgeklügelte technische Erfindungen wie die Kehrmaschine, die mal eine kaputte runde Haarbürste war. Nun ist es ein Apparat mit einem langen Stil aus Papprollen, großen Rädern aus Plastikdeckeln, einem Steuerungsmechanismus und einer selbst drehenden runden Haarbürste zum Müllaufsammeln.

Vor allem die älteren Schüler kümmern sich in den Workshops nicht nur um die Wiederverwertung des Mülls – sie diskutierten auch über die Problematik an sich. Von „Weltbeschmutzung“ spricht ein zehnjähriges Mädchen und erklärt sie und die Folgen so: „Wenn man zu viel Müll hat und überall hinwirft. Die Luft wird dreckig, davon kriegen wir eine Krankheit, und die Bäume kriegen keine Luft mehr, da kriegen wir keine Luft ohne die Bäume.“ Ihre Schussfolgerung: Wenn man aus alten Sachen neue macht, ist es gut und spart Geld.

Dennoch packt das Bastelfieber bei weitem nicht jeden. „Da muss man nicht so einen Aufwand machen“, erklärt die zwölfjährige Chantal, warum gekaufte Sachen doch besser sind. Basteln – etwa ein Geschenk für ihre Mutter – würde sie nur, wenn sie mal kein Geld haben sollte.

Das Projekt „Récup“ läuft noch bis Ende März. Informationen und Anmeldung für Workshops: 68 09 24 31 kultur-neukoelln.de/galkoern.html