: Spielen am Ende der Welt
Wie bespielt man die Stadthalle Aurich und das Kurtheater Norderney? Mit Uraufführungen junger Autoren! Das Theater Wilhelmshaven macht das vor. Zum Beispiel mit Stücken von Katharina Gericke
VON BENNO SCHIRRMEISTER
Eine noch. Die muss noch gehen. Es wäre ja auch noch Zeit für einen Kaffee, Aufführungsbeginn ist erst um 20 Uhr, und Katharina Gericke erzählt gerade von ihrer Panik und Hilflosigkeit als Autorin: dass die furchtbare Aufregung in Schüben kommt, so kurz vor der Uraufführung, immer, „und man kann ja nun wirklich nichts mehr tun“. Aber die Bedienung feudelt die letzten Gäste gnadenlos aus dem Café, na gut, die eine Zigarette noch, aber dann ist Schluss. Es ist 18 Uhr. Und dies hier ist Wilhelmshaven. Tiefste Provinz.
„Wilhelmshaven ist“, sagt Intendant Gerhard Hess, „ein Ende der bewohnten Welt.“ Das klingt nicht nur freundlicher als Provinz, das heißt auch etwas anderes: In der Provinz passiert nichts. Am Rande aber schon. Nur wird es meist übersehen.
In Wilhelmshaven geschieht seit einiger Zeit, dass Gegenwartstheater, oder besser: gegenwärtiges Theater von Autorinnen und Autoren, die im Saal dabeisitzen und furchtbar aufgeregt sind, Stadtgespräch wird. Dass das Theater als bürgerliche Institution seine alte gesellschaftliche Relevanz zurückerobert. Zum Beispiel bei der Uraufführung von Gerickes Stück „Buckliges Mädchen“ am Samstag. Der Saal ist groß. Und er ist fast voll. Ungefähr 400 Leute sind gekommen. 500 Plätze gäbe es. Die Stadt hat doch nur 83.552 Einwohner.
„Buckliges Mädchen“ ist in der laufenden Spielzeit bereits die dritte Uraufführung. Und nix da Studioproduktion im kleinen Saal: „Da machen wir die Schwänke“, sagt Hess. Aber die sperrigen Sachen, „die müssen auf die große Bühne“. Die erste Weltpremiere der Spielzeit, das war „Pleite – Anfang und Ende (Un homme en faillite)“ im Herbst und eher ein Zufall. Eigentlich hatte nämlich das Théâtre de la Ville in Paris die älteren Ansprüche – der Dramatiker David Lescot ist in Frankreich ziemlich erfolgreich. Aber dann sei Wilhelmshaven einfach schneller gewesen, sagt Lescot, „bravo“, so kann’s gehen. Und dass die Uraufführung in dieser Stadt „au parfum fin du monde“ dem ganzen Abenteuer seines Stücks „eine bizarre Note“ verliehen habe, die ihm gefiel.
„Buckliges Mädchen“ ist bereits das fünfte Stück, das Hess bei Katharina Gericke bestellt hat, die fünfte Uraufführung, die ihr die Landesbühne Nord beschert. Und auch diese Produktion wandert natürlich wieder in die kleineren Orte. „21. März: Stadthalle Aurich“ heißt der nächste Termin. Dann wird die Bühne „Realschule Norden“ angesteuert. Und schließlich: das Kurtheater Norderney.
Und dabei schreibt Gericke weder Plattdeutsch noch Boulevard und stammt noch nicht einmal von hier. In Kyritz ist sie geboren, in Potsdam aufgewachsen und lebt noch immer da in der Ecke. Den Kontakt zu ihr habe er aufgenommen, weil ihn „ihre Fähigkeit, Menschen und Geschichte zusammenzudenken“, fasziniert hat, sagt der Intendant. „Und ihre eigenständige Sprache.“ Neun Jahre dauert die Zusammenarbeit schon.
Am Anfang, beim ersten Stück, sei die Reaktion des Publikums heftig gewesen, erinnert sich die Autorin, gerade an den kleinen Stationen. „Es gab Proteste und schlechte Kritiken.“ Hess aber hat sich nicht beirren lassen. „Ich kann nur mein Theater machen“, sagt der Schweizer. Hess ist seit neun Jahren Intendant in Wilhelmshaven.
Einer der Zuschauer ist gegangen. In der Pause. Leicht erregt hat er sich in seinen beigen Mantel gefuhrwerkt, wobei der linke Arm ein wenig hängen geblieben ist, und mit unterdrücktem Zorn in der Stimme hat er diese klassische Frage gestellt, die man stellt, wenn’s nicht gepasst hat. Gedämpft hat er gesprochen, fast geflüstert, als dürfe das keiner hören, außer den Bekannten, die er auf der Treppe getroffen hat. Jede Silbe ein Luftstoß „Wás – wíll – díe – Fráu – úns – ságen?“
Aber seine Bekannte hat, wie zur Antwort, nur einen Zug aus der Zigarette genommen und die linke Augenbraue gelüftet. Und als er auf dem Rad mit flackrigem Rücklicht in die Dunkelheit entschwunden war, ist sie wieder ins Theater gegangen. Wie alle anderen. Und hat sich weiter dieses durchaus vertrackte Drama angeschaut.
„Buckliges Mädchen“ ist, grob gesagt, ein Stück über die Wende. Geschrieben aus Ostperspektive. Keineswegs ostalgisch. Eher stellt es die Frage danach, wo so etwas wie Ostalgie, die unkritische Verklärung des Arbeiter-und-Bauern-Staates, seine Wurzeln hat. Es lässt sich lesen als realistisches Drama dreier Familien, die sich teils nörgelnd mit der DDR arrangiert haben, teils deren treue Anhänger sind. Es spielt 1989, im Juli beginnt’s, und roter Faden ist die Hochzeitsvorbereitung von Carry Tarjan, die ihren Schulfreund Sewan Brackenstall heiraten will. Er ist Sohn eines Grenzoffiziers, sie Tochter einer Defa-Heroine. Als Termin vor dem Potsdamer Standesamt haben sie sich den 9. November ausgesucht.
Zugleich macht der Text auf feine beiläufige Art aus dem Mädchen eine Allegorie des sich auflösenden Staatswesens. Und Regisseur Christof Meckel hat diesen Doppelklang des Stücks durch kurze Tanzeinlagen und andere surreale Tupfer für jeden lesbar und nicht allzu plakativ herausgearbeitet. Ihres Buckels wegen hat Carrys Vater sie als Kind „ins Gipsbett gepresst“, erzählt sie an einer Stelle. „Ich trug ein Korsett, das mir den Atem nahm.“
Dann ist, gleich nach dem Brautkuss, die Mauer offen. Carry bleibt da, die anderen streben Richtung Grenzübergang Glienicker Brücke. Ja, selbst der Staatsbürgerkundelehrer Kopotka schleicht sich. Und Meckel erlaubt ihm ganz zum Schluss doch noch ein wenig „Schwanensee“ auf der Gitarre zu zupfen, die er bis dahin tonlos über die Bühne trug.
Nein, nicht jede Szene sitzt so sauber und bestimmt wie jene vom Staatsfeiertag, als Carry und ihre Oma mit Winkelementen den Feierlichkeiten beiwohnen wollen, die zur Großdemo der friedlichen Revolution geraten. Und beide alles andere als erfreut sind über die sich ankündigenden Veränderungen. „Dieser völlig fremde Blick auf diese Ereignisse“, sagt der Regisseur Meckel, „diese fremde Welt“, das sei es gewesen: Als man da beim Proben hineingekommen war, habe das Stück „einen Sog“ entwickelt. Und im Rausch lassen sich manchmal die eigenen darstellerischen Grenzen am besten überwinden.
Mit 5,5 Millionen Euro Jahresetat lässt sich kein Spitzenensemble aufbauen: Man setzt in Wilhelmshaven stark auf junge Darsteller, die sich erst noch frei spielen müssen. Außerdem hat man ältere Schauspieler rekrutiert, denen anderswo nichts mehr zugetraut wurde. Auf der Bühne gibt’s genial-sparsame Lösungen: eine Wand mit fünf Drehtüren, eine einzeln demontierbare rote Sitzgruppe auf einer Kreisschiene und eine obere Etage für mystische Autoritäten – das passt, das reicht und schafft Spielräume ohne Ende.
Regie führen Thirtysomethings, die sich für eine gewisse Zeit völlig verausgaben wollen: Auf 25 Inszenierungen in vier Jahren hat’s der jetzige Oberspielleiter Reinhardt Friese gebracht. Zu Saisonende verlässt er die Stadt, und Meckel wird sein Nachfolger.
Das Gericke-Stück hat so seine Widerhaken, und die hat Meckel sauber ausgearbeitet – um sie anschließend nur umso besser zu maskieren. Am offensichtlichsten ist noch jener, dass dieses bucklige Mädchen so angenehm verschroben und bebrillt über die Bühne stelzt: eine Sympathieträgerin vor dem Herrn und doch die Verkörperung der Republik – auch wenn sie auf Samtpfoten daherkommt. Provozierend bleibt das Verständnis, das mit ihr für die Rückwärtsgewandtheit eingeworben wird. Und darauf könnte man durchaus mit Türen schlagender Saalflucht reagieren. Aber keiner tut’s. Und am Ende wird geklatscht, nein, nicht euphorisch, das wäre nicht norddeutsch, aber doch anhaltend und ohne Buhrufe.
Sind halt schon was gewohnt die Leute hier. Und scheinen es als Qualität erkannt zu haben, dass Herr Hess sein Theater macht. Und keine Konfektion. Dass ihr Theater ihnen etwas zu denken gibt: Die Zuschauerzahlen sind mittlerweile wieder so hoch wie vor 30 Jahren – und da war Wilhelmshaven noch bedeutend größer. Auf 30 Prozent hat man die Eigenfinanzierungsquote gesteigert. Und während das Land seine Zuschüsse bis 2011 gedeckelt hat, hat schon der Theaterzweckverband angekündigt, die dann notwendig entstehenden Fehlbeträge auszugleichen. Im Theaterzweckverband sind die Kommunen organisiert, für die die Landesbühne spielt. „Die“, sagt Hess, „stehen voll hinter uns.“
Selbstverständlich gehört die Pflichtoperette zu Silvester auf den Spielplan. Und natürlich auch Klassiker. Wobei man auf diesem Feld gerne einmal etwas tiefer gräbt: Andreas Gryphius’ „Ermordete Majestät“ hat es in der vergangenen Spielzeit gegeben. Ein wuchtiges barockes Trauerspiel, das seit 200 Jahren höchstens noch gelesen wurde. Und in der verschärften Terrorismusdiskussion plötzlich brandaktuell war. Wenn man Herrn Hess sagt, wie mutig das alles ist, dann lächelt er und stapelt tief, dass man ja gar nicht so allein auf weiter Flur sei, wie es scheint. „Andere machen das auch.“ Und das stimmt ja. Letztlich habe man „gar keine andere Chance“. Denn dort, wo die Bühne nur Abspielort ist, „da stirbt das Theater wirklich“. Zumindest gibt es Ränder, an denen es lebt.