: Frech genau ausgemessen
RETROSPEKTIVE Das Arsenal zeigt die Filme von Jacques Demy, der ziemlich heterogene Ensembles schein-unschuldiger Sixties-Motive aus Mädchentraum und Autoquartett so verfugt, als gehörten sie zusammen
VON DIEDRICH DIEDERICHSEN
Verträumte amerikanische Männer cruisen in offenen Sportwagen französische Seepromenaden entlang. Oder eine sonnige Surface-Street in L. A. Oder sie flanieren in kleidsamen weißen Matrosenuniformen an französischen Kaianlagen vorbei. Melancholische Mädchen, gehüllt in pastellfarbene Gaze, äußern sich ausschließlich in ebenso gepflegt flauschigen wie hypereleganten Chansons. Sie schauen an den leise leidenden Männern vorbei und denken an den, der nie wiederkommt. Die viel zu süßen und doch verdammt triftigen Pop-Sinfonietten des Michel Legrand oder das lakonische E-Klavier der frühen Spirit verfugen diese bei näherem Hinsehen doch ziemlich heterogene Ensemble scheinunschuldiger Sixties-Motive aus Mädchentraum und Autoquartett so, als hätte dies alles schon immer zusammengehört: Die Welt Jacques Demys war ein Traum, aber ein ganz anderer, als ihn sogenannte Traumfabriken hervorbringen.
Sein Kosmos aus wunderschönen alleinerziehenden Müttern, sich womöglich parthogenetisch immer wieder identisch fortpflanzenden Catherine Deneuves und ihren lebens- und arbeitsunfähigen Männern im ewigen Aufschub, blieb einzigartig – trotz der Anknüpfungsversuche einer Sofia Coppola in „Virgin Suicides“ und „Marie Antoinette“ und der Demy-Hommage „Das Leben ist ein Chanson“ von Alain Resnais.
Dabei war er alles andere als ein schroffer oder erratischer Regisseur. Er drehte Märchen und Klassenkampf, Rock, Folk und Symphonik, Mainstream und Independent. Er liebte alles, was die Leute vom Kino wollten – Musik, Mädchen, Männer, Autos, Abenteuer, Geheimnisse, Städte, Prinzessinnen und Poesie –, und konnte trotzdem oder gerade dadurch von der Wirklichkeit berichten. Schon sein erster abendfüllender Film, „Lola“ (1961) mit Ainouk Aimée, sollte ein Musikfilm in seiner geliebten drastisch bonbonfarbenen Revuewelt werden, aber das Geld war nicht da. Trotzdem reihen sich die schicksalhaften Begegnungen zwischen Seeleuten und Showgirls, Dichtern und Damen aneinander wie Nummern – und es gibt dabei mehr atemberaubende Außenbilder des echten Nantes, als es sich ein Verité-Movie erträumen könnte. In den 80ern wird Demy mit „Un chambre de ville“ eine ganz und gar gesungene Streikoper drehen. Berühmt wurde er aber 1964 für die „Regenschirme von Cherbourg“, wo Catherine Deneuve auch den unglücklichen Abgewiesenen aus „Lola“ kennenlernt. Die Novelty-Idee, einen Film ganz singen zu lassen, der weder Musical noch Oper ist, sich weder an Rock ’n’ Roll und junge Leute ranschmeißt, noch mit neuer Musik zu tun hat, wird Demy immer wieder aufnehmen, bis zu seinem letzten Spielfilm, der grandios misslungenen Hommage an Yves Montand („Trois places pour le 28“) aus dem Jahre 1988. Doch bei den „Regenschirmen“ kann man Epiphanien erleben. Das alte popästhetische Wissen, dass die perfekte Organisation von Künstlichkeit, der fundamentale Gesamtzucker, Kritik viel weiter treibt als je ein V-Effekt des Brecht-Theaters, ist hier Kino geworden. Nicht weil die Künstlichkeit ausgestellt und zur Kritik freigegeben wäre, sondern weil die pralinenbunte Dauerverführung im Gesang präzise eine Distanz zur gleichzeitig angedeuteten Alltagskommunikation des Dialogs hält, die der Strecke entspricht, die uns von der Utopie trennt: frech genau ausgemessen. Atemberaubend. Deneuve kehrt mit ihrer Schwester Françoise Dorléac, die früh verstarb, in den „Desmoiselles de Rochefort“ zurück, der euphorischer und amerikanischer ausfällt. Legrand badet hier virtuos in dem von ihm erfundenen klangfarbenbunten Jazz-Pop, ist aber auch dem Warner-Brothers-Arrangement-Stil von Bands wie Harper’s Bizarre ziemlich nahe. Man sieht den „Desmoiselles“ bei aller Brillanz den Versuch an, mit dem Genre Musical warm zu werden, statt weiter an dem Selbsterfundenen zu arbeiten. Trotz eines liebeskranken Seemanns, der aus Nantes rübergespült wird.
Auch seinen anderen Figuren begegnen wir immer wieder in anderen Settings. In „Model Shop“ (1968) taucht Lola (Ainouk Aimee) in L. A. wieder auf. Wir erfahren, dass ihr amerikanischer Matrose in Vietnam gefallen ist, und Demy leiht sich die Band Spirit vom Hippie-Zeitgeist, sicher die französischste aller psychedelischen L.-A.-Bands. Gary Lockwood ist mit den Raten für seinen Sportwagen in Verzug, gibt aber alles in einem Shop aus, wo man Kameras mieten und für Geld Models fotografieren kann. Der Rest ist existenzialistisch-süßes Cruisen zu zart schaumigen, psychedelischen Jams samt einem Besuch bei der Band zu Hause. In einer bizarren Verfilmung der Rattenfänger-von-Hameln-Legende versucht Demy zeitgenössische Popmusik noch einmal über eine Hauptrolle für Donovan und dessen Songs zu integrieren, ansonsten bleibt er bei Michel Legrand. Auch bei „Peau d’ane“, einem psychedelisch abgespacten Märchenmusical, in dem Catherine Deneuve, um nicht von ihrem Vater geheiratet zu werden, sich in einem Eselfell versteckt. Der Matrose aus Rochefort (Jacques Perrin) ist nun Prince Charming.
Die heute bekanntere Ehefrau des 1990 verstorbenen Demy, Agnès Varda, die zur Restauration seiner Filme viel beigetragen hat, ist vielleicht die Einzige, die ihn nicht nur verstanden, sondern auch weitergedacht hat. Ihr „Le Bonheur“ (1965) versucht auch so eine exakte Distanz zwischen dem Glück, seinem Begriff und seiner Realität über die Konstruktion eingekapselter Künstlichkeit zu ermitteln. In „Cléo de 5 à 7“ (1962) gibt es einen jungen Mann, der am nächsten Tag in den Krieg ziehen wird, wie Gary in „Model Shop“, und Legrand selbst spielt einen Pianisten, vor allem aber klaut Varda hier mit Corinne Marchand Demys schönste Nebendarstellerin aus „Lola“ – und mit ihr diese krispe, atlantiksalzige Melancholie im Zentrum des Zuckers.
■ Jacques Demy im Arsenal, bis 5. Mai