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Archiv-Artikel

FRÜHER WAR ALLES BESSER? ACH WAS. HÄTTEN WIR DAMALS SCHON HANDYS GEHABT – AUCH WIR HÄTTEN GEFILMT, WIE WIR DIE VERKLOPPTEN, DIE ANDERS WAREN. WIR SIND SO Wer schwach ist, muss sich rechtzeitig ducken

Foto: Lou Probsthayn

KATRIN SEDDIG

Geschlagen haben Jugendliche ein vierzehnjähriges Mädchen in Celle, das gefilmt und den Film über soziale Netzwerke verbreitet. Das Mädchen hat die Jugendlichen daraufhin angezeigt. Soweit nichts Neues. Ähnliches kommt jeden Tag vor, nur selten wird jemand angezeigt, die betroffenen Kinder oder Jugendlichen wollen sich mit einer Anzeige nicht noch mehr ins Abseits stellen, denn so kann das passieren, wenn man der/die Geschlagene ist, dann ist man auch der oder die Dumme. Opfer ist ein Schimpfwort in der Jugendwelt.

Arm sein, zugewandert sein, behindert, alt oder krank sein. Das bedeutet ganz allgemein aber auch in der Erwachsenenwelt weniger wert sein, das bedeutet auf eine irrationale, unerklärliche Weise schuld sein. Wer arm ist, der ist schuld und verdient Verachtung. Wer aus seinem Land, zum Beispiel vor einem Krieg, in unser Land fliehen muss, der ist schuld. Schuld sind die Irren in der Bahn, die Penner unter der Brücke, schuld sind die Mütter, die ihre Kinder allein und in Armut aufziehen und schuld sind die, die geschlagen werden, weil sie schwach sind. Schwach sein ist schuldig sein. Wer schwach ist, muss sich rechtzeitig ducken, weil er nicht beliebt ist. Auf die Schwachen entlädt sich unsere Wut und unser Hass. Unsere eigene Stärke scheint uns in einer harten Wettbewerbswelt ein großer Verdienst zu sein.

In der Jugendwelt wird das geprobt. Wer geschlagen wird, muss sich schämen, selbst und gerade wenn er allein gegen viele steht. Allein sein ist eine der größten und verabscheuenswürdigsten Schwächen unserer Gesellschaft. Die, die allein sind, sind am allerwenigsten wert. Wer die meisten Freunde hat auf Facebook und Follower auf Twitter, wer die meisten Likes auf seinem Profilfoto hat, der ist am meisten wert, das weiß das kleinste Kind.

All den Leuten, die behaupten, dass es früher irgendwie besser gewesen wäre, weil es das früher nicht gegeben hätte, möchte ich sagen, dass sie an einer Verklärung leiden. In meiner und unserer aller Jugend wurde ebenso geschlagen und gemobbt. Verkloppt hieß das bei uns. Verkloppt wurden Heimkinder oder „Assikinder“. Verkloppt wurden schon immer die Schwachen, früher wie heute. Verkloppt wurden die, die nicht in der Norm waren. Die schwule Tendenzen zeigten. Die nicht wollten, was alle wollten.

Nur hat es früher niemanden interessiert. Nicht die Lehrer und nicht die Erzieher. Kinder sollten ihre Probleme unter sich ausmachen. Kinder machten ihre Probleme unter sich aus. Sie duckten sich und verschwiegen es, wenn sie dann mal dran waren. Wer das vergisst, der schönt sich seine Jugend. Vielleicht, weil er selbst nie zu denen gehörte, die verkloppt wurden. Vielleicht, weil er zu denen gehörte, die verkloppt wurden.

Was wirklich früher nicht da war, das war das Handy, der Film und die Öffentlichkeitmachung. Weil es das nicht gab. Nicht, weil wir das früher nicht gemacht hätten. Wir hätten. Wir sind solche Menschen. Die meisten von uns. Auch wenn wir denken, dass wir das nicht sind. Wir meiden insgeheim die Schwachen. Wir sind nicht mit ihnen befreundet. Wir suchen uns unseren Freundeskreis passend zu unserem sozialen Status. Wir sind herablassend wohltätig. Wir bilden uns etwas ein auf unsere Leistung, die im Mithalten besteht. Wir schlagen niemanden und stellen nichts ins Internet. Aber wir verachten. Wir ignorieren und wir sortieren. Wir setzen uns in der Bahn nicht neben diesen und nicht neben jene. Wir können nicht anders. Wir sind so. Schon immer. Schon seit wir Kinder waren. Wir sind so erzogen.

Das Leben hat sich verändert. Die Welt sieht heute ganz anders aus als gestern. Aber manche Dinge bleiben fast immer gleich. Katrin Seddig ist Schriftstellerin und lebt in Hamburg, ihr jüngstes Buch, „Eheroman“, erschien 2012 bei Rowohlt. Ihr Interesse gilt dem Fremden im Eigenen.