Glück, Demut und Mitleiden

STAATSOPER Am Samstag Alban Bergs „Wozzeck“, am Sonntag Richard Wagners „Walküre“: Daniel Barenboim kann das, zur Not auch ohne Regisseur. Bei den „Festtagen“ drohen sich die Werke dennoch gegenseitig zu erdrücken

Unter Barenboims Händen wird Wagner zur Musik mit eigenem Recht

VON NIKLAUS HABLÜTZEL

Wie jedes Jahr um diese Zeit hat die Staatsoper ihre sogenannten „Festtage“. Leider hat Jürgen Flimm nicht den Mut, diese durch und durch provinzielle Marketingidee abzustellen. Daniel Barenboim ist der Generalmusikdirektor (und Chefdirigent des Orchesters auf Lebenszeit). Wenn er eine Oper dirigiert, dann ist zu hören, warum die Staatsoper Berlin ein gewichtiges Wort in der Welt des Musik mitzureden hat. Das ist kein Fest, sondern der Alltag, und eine kluger Spielplan hätte dafür zu sorgen, dass dieses Wort auch gehört wird. Stattdessen hat die Dummheit der sogenannten Festtage zu einem monströsen Wochenende mit zwei Premieren geführt, die sich gegenseitig im Wege stehen und erdrücken.

Das ist ein Jammer für beide, vor allem aber für die erste, für Andrea Breths Inszenierung des „Wozzeck“ von Alban Berg. Sie hinterlässt eine lange nachwirkende Mischung von Gefühlen des Glücks, der Demut und des Mitleidens. Denn es ist ein Glück, diese 120 Minuten großer, universaler Kunst so unverstellt und intensiv miterleben zu können, wie das im intimen Schillertheater möglich ist. Demütig stimmt die Erkenntnis des Unvergleichlichen dieses Werkes, das ein auch ohne Musik erschütterndes Stück Literatur aufnimmt, ohne jemals abzugleiten in die Esoterik einer selbsternannten Avantgarde. Denn Büchners wie Bergs Wozzeck ist ein Volksstück, für arme Leute geschrieben. So jedenfalls nimmt es Andrea Breth beim Wort in einer radikal reduzierten Guckkasten-Bühne, die den Blick fixiert auf eine Folge von Einzelbildern. Jedes steht für sich, so wie die 15 einzelnen Abschnitte der Partitur für sich stehen, und jedes zeigt drastisch und schockierend das grausame Unglück eines Menschen, den man nicht tragisch nennen kann, weil ihm selbst dafür die nötige Fallhöhe nie gegönnt wird.

Barenboim und die Staatskapelle führen mit Chor und Solisten – Roman Trekel als Wozzek, Nadia Michel als Marie – so klar und warm klingend durch die subtilsten Wendungen der Partitur hindurch, dass diese Musik ganz selbstverständlich wird. Nichts mehr ist schwierig, die strengstmögliche Form schlägt um in die unmittelbare Spontaneität des richtigen Ausdrucks im richtigen Augenblick.

Danach ist es eigentlich völlig unmöglich, einzutauchen in den Rausch von Richard Wagner und seiner privaten Märchenwelt des Rings des Nibelungen. Aber es musste sein, der Festtage wegen. Barenboim produziert mit der Scala in Mailand seinen eigenen Ring, geplant, als in Berlin noch alles im Argen lag, und deswegen mit einem Regisseur, der Guy Cassiers heißt, in Antwerpen ein Theater leitet, das er für kreativ und avantgardistisch hält. Was Barenboim davon hält, ließ sich seiner Körpersprache beim Schlussapplaus entnehmen. Andrea Breth hatte er so herzlich umarmt, dass sich die Regisseurin ziemlich verduzt über diesen Ausbruch von Dankbarkeit hinter den Vorhang flüchtete. Als Cassiers am anderen Tag unter heftigen Buhrufen des Publikums schließlich doch noch auf die Bühne kam, sah sich Barenboim nicht einmal nach ihm um.

Auch mit dieser „Walküre“ ist es Barenboim wieder einmal gelungen, seinen Wagner zu spielen. Pünktlich nachmittags 4 Uhr geht das Licht aus, und im Orchestergraben beginnen die Streicher zu grollen. So ist das nun mal am Anfang der Walküre, aber im Schillertheater meint man mit dem ganzen Körper das Vibrieren der Saiten zu spüren. Eine gewaltige Energie, nur mühsam gebändigt, scheint sich da Raum zu schaffen, reißt die ersten Bläser mit, bäumt sich auf, bis schließlich der volle Akkord heranrauscht, der nun doch sehr nach Wagner klingt. Wirklich? Wo ist das Plakative, Illustrierende dieser Überwältigungsmusik geblieben? Es ist verschwunden, unter Barenboims Händen wird Wagner zur Musik mit eigenem Recht, befreit von ihrer ideologischen Funktion, die ihr der Komponist sehr wohl aufgeladen hatte.

Selbst der berühmte Walkürenritt ist plötzlich nicht mehr das stampfende Kriegsdröhnen, zu dem man seit Coppolas „Apocalypse Now“ unweigerlich die Rotorblätter der Hubschrauber über dem Dschungel von Vietnam knattern hört. Die Staatskapelle spielt ein filigranes, seltsam nervöses Stück, das noch nicht einmal ein richtiger Marsch ist. Nicht laut, sondern durchsichtig und zerbrechlich ruft es die Privatarmee des scheiternden Gottes Wotan herbei, die nun auch nicht mehr die Klangmauer von acht Frauenstimmen ist, sondern ein bemerkenswert polyphones, dialogisches Stück Musik.

Den Wotan singt René Pape. Leider hat der Etat nicht ausgereicht, um die anderen Rollen auch nur annähernd ebenbürtig zu besetzen. Und über die Inszenierung sollte man schon gar nicht reden. Wir haben schließlich Festtage.