jazzkolumne : Energie, Spielfreude und Disziplin
Von Festival zu Festival: München lud zum „Unforeseen“ Symposium, Zürich widmete dem Bassisten Barry Guy zwei Tage
115.000 Euro hatte das Münchner Kulturreferat für das Symposium für Improvisierte Musik „Unforeseen“, das vom 8. bis 12. September 2004 zum ersten Mal stattfand, zur Verfügung gestellt. Eine stolze und wichtige Summe, wenn man nur einmal vergleicht, wie etwa das legendäre Total Music Meeting in Berlin mit 25.000 Euro kurzgehalten wird. Von insgesamt 180.000 Euro ging der zuständige Kulturreferatsleiter Christoph Höfig damals aus, wenn man die Mieten für die Veranstaltungsräume und die Kosten für die Aufnahme der beiden Auftragskompositionen noch hineinrechnen würde. Doch ein solches Engagement zahlt sich aus – die vierzehn eigens für eine Probenwoche und zwei Uraufführungen aus England und den USA eingeflogenen Musiker waren hoch motiviert, konzentriert und neugierig. Das Münchner ECM-Label hat die Proben und Konzerte jenes Transatlantic Art Ensemble mitgeschnitten und die erste CD davon veröffentlicht: Roscoe Mitchell, „Composition/Improvisation Nos. 1, 2 & 3“.
Der damals 34-jährige New Yorker Pianist Craig Taborn, einer der jüngsten Mitwirkenden im Transatlantic Art Ensemble, weist darauf hin, dass der Mangel an kreativen Arbeitsbedingungen und Proben ergänzt durch eine Mainstream-orientierte Hochschulausbildung in den letzten Jahren zu einer Situation geführt habe, in der immer weniger amerikanische Nachwuchsmusiker zum freien Improvisieren in der Lage sind.
Höfig hatte für dieses Projekt den britischen Saxofonisten Evan Parker gefragt, wen er sich als Koleader und -komponisten eines gemeinsamen Ensembles vorstellen könnte. So kam man auf den afroamerikanischen Saxofonisten Roscoe Mitchell. Ihn kennt man als das für Komposition zuständige Gründungsmitglied des Art Ensemble of Chicago und als Leiter seiner Band Note Factory. Alle Musiker, die er für München auswählte, kommen nicht nur aus einer jüngeren Generation, sondern sind auch alle in seiner Note Factory aktiv. Besonders der damals fünfundzwanzigjährige Trompeter Corey Wilkes, der seitdem auch wiederholt mit dem Art Ensemble of Chicago auf Tour und im Studio war, überraschte mit großer Energie, Spielfreude und Disziplin – den drei Konstanten der improvisierten Musik. Wilkes war so gesehen die Entdeckung bei den beiden Konzerten in der Münchner Muffathalle, bei der die Auftragskompositionen von Parker und Mitchell uraufgeführt wurden. Er spielt simultan auf Flügelhorn und Trompete, weiß um Effekte und Spielhaltungen, die Bill Dixon und Lester Bowie erfanden und groß machten, und kennt sich mit New Orleans Jazz, Soul und Funk aus.
Dass der heute 66-jährige Mitchell talentierten jungen Spielern eine Chance wie München eröffnete, spricht für ihn und seine auf Fortschritt und Erneuerung projizierte Spielhaltung. Immer schon experimentierte er auch mit aktuellen und populären Strömungen der Great Black Musik, spielte auch freie Improvisationen zu Hiphop-Beats und Samples. Seine für das „Unforeseen“ Symposium gefertigte Komposition überzeugte hingegen nicht wirklich – zu steif, zu lang, zu konstruiert. Die Proben für das eineinhalbstündige Werk müssen streckenweise enervierend gewesen sein, nach zweieinhalb Stunden, während der das 14-köpfige Ensemble den kompliziert arrangierten Umgang mit drei Tönen versuchte, zeigte sich auch der im freien Feld höchst erfahrene Bassist und Komponist Barry Guy sichtlich ratlos. Aber das gehört zu den Tücken des Geschäfts. Nicht alles klappt. Früher mochte man sich angesichts minimaler Differenzen in den Spielauffassungen und unterschiedlicher Traditionsausprägungen in der freien Improvisation schnell mal in die Wolle bekommen haben, heute lobt man den harmonischen Umgang und die auf gemeinsame Lösung setzende Haltung der Improvisatoren. Während Mitchell viel notiertes Material mitbrachte, operiert der Komponist Evan Parker eher konzeptionell. Der 1944 geborene Musiker hatte den anderen Teil des Transatlantic Art Ensembles mitgebracht, allesamt führende europäische Improvisationskünstler seiner Generation, die schon Anfang der Siebziger im London Jazz Composers Orchestra des Bassisten Barry Guy mitwirken.
Heute gilt Guy, dem gerade in Zürich, kurz vor seinem 60. Geburtstag, ein zweitägiges Festival mit eigener Musik gewidmet war, als der herausragende Komponist des europäischen Free Jazz, mit seinem London Jazz Composers’ Orchestra (LJCO) und seinem New Orchestra experimentiert er schon seit den Siebzigerjahren an neuen Formen der kollektiven Improvisation. Auf der gerade erschienenen CD „Barry Guy: Portrait“ (Intakt) ist schön dokumentiert, wie ihm der Versuch gelang, neue Formen und Sounds zu finden, ohne den fragwürdigen Drang, zwei eigenständige Kunstformen im Third Stream zu verbinden. Man wollte keine 4/4-Takte mehr, sondern Sounds für große Ensembles, neue Systeme erfinden, um die Musik für die Spieler so adäquat wie möglich zu organisieren. Bei seiner Komposition „Ode“ hatte er 1972 auf dem Plattencover ein Foto aus dem Vietnamkrieg benutzt, um den Protest auszudrücken, und durch die Zusammensetzung des Orchesters mit Musikern aus ganz verschiedenen Erfahrungsbereichen wollte er auch zeigen, dass soziale Kreativität möglich ist – seine Kompositionen sollten den Widerstand und die schöpferische Vision eines großen Ensembles möglich machen. CHRISTIAN BROECKING