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Archiv-Artikel

Ausbildung zur Kanzlerin

Jungs reparieren Autos, Mädchen pflegen die Kranken und Gebrechlichen – die alte Aufgabenteilung der Geschlechter ist noch immer die Regel. Mit neuen Unterrichtsformen halten die Schulen dagegen

VON GUDRUN GIESE

An der Spitze der Bundesregierung steht eine Kanzlerin, die Medien sind voller Talk- und Politikmoderatorinnen, und zur Bundeswehr dürfen Frauen auch längst. So gesehen ist in den zurückliegenden zwanzig, dreißig Jahren viel passiert auf dem Feld der Emanzipation oder, mittlerweile geläufiger, der Chancengerechtigkeit.

Doch genauer hinsehen lohnt sich: Trotz Kanzlerin und Talkerin entscheidet sich das Gros der jungen Frauen nach wie vor für einen „typisch weiblichen“ Ausbildungsweg. Kauffrau, Friseurin, Krankenschwester gehören zu den favorisierten Berufen der Schulabgängerinnen. Die männlichen Klassenkameraden entscheiden sich weiter mehrheitlich für einen Job als Kfz-Mechatroniker oder Informationselektroniker. Bei den Abiturienten nicht anders: In den Sprach- und Kulturwissenschaften haben Frauen einen Anteil von mehr als 70, in den Bereichen Kunst und Medizin von über 60 Prozent. Demgegenüber liegt der Männeranteil in den Ingenieurwissenschaften bei knapp 80, in Mathematik und den Naturwissenschaften bei über 62 Prozent.

„Die Geschlechter konstruieren sich spätestens mit Beginn der Pubertät immer wieder selbst“, sagt Dorothee Wetzel, Gymnasiallehrerin und Beauftragte für Chancengleichheit im Regierungspräsidium Stuttgart. „Jungen und Mädchen, die sich nicht geschlechtertypisch verhalten, geraten schnell unter Druck“, hat sie beobachtet. Fußballspielen unter Mädchen falle ebenso aus der Reihe wie ein Junge, der sich für Tanzen entscheide.

In etlichen Schulen versucht man längst, Geschlechterstereotype zu hinterfragen. Klischeeklassiker à la „Mädchen haben keine Ahnung von Physik“ oder „Jungen können sich nicht ausdrücken“ sind passé. „Es kommt darauf an, dass sich die Heranwachsenden überhaupt in verschiedenen Rollen erproben dürfen“, sagt Hannelore Gieseker. Sie ist Lehrerin und Ansprechpartnerin für Gleichstellungsfragen an der Wilhelm-Kraft-Gesamtschule im Ennepe-Ruhr-Kreis.

„Beispielsweise können sie im Kurs ‚Soziales Lernen‘ ihre Gefühle erproben, ihr Streitverhalten und ihre Art zu kommunizieren. Gerade dort drückt sich das Geschlechterverhalten stark aus.“ Neben dem Fachunterricht spielen in der Ganztagsschule lebenspraktische Projekte eine wichtige Rolle. Selbstbehauptung und -verteidigung machen Mädchen und Jungen ebenso getrennt wie Lebensplanung. Hannelore Gieseker: „Mädchen brechen bei entsprechender Unterstützung schneller aus den Geschlechterklischees aus als Jungen und entscheiden sich etwa für einen ‚atypischen‘ Beruf“. Klar, denn Mädchen haben mehr zu gewinnen, wenn sie nicht die Rollenvorstellungen ihrer Eltern und Großeltern übernehmen. Jungen hingegen verlieren viel an Bequemlichkeit, wenn sie feststellen müssen, dass das „Hotel Mama“ keine Selbstverständlichkeit ist.

In den zurückliegenden Jahren hat sich der Blick für die Besonderheiten beider Geschlechter geöffnet. An Hannelore Giesekers Schule etwa gab es ursprünglich eine reine Mädchenarbeit, aus der sich viele der jetzigen Projekte entwickelt haben. „Das bedeutet Erfahrungsvorsprung in der Geschlechterfrage. Bei uns spielt jedenfalls mittlerweile das Thema eine sehr wichtige Rolle auf allen Ebenen – im Fach- wie im Projektunterricht, im Kollegenkreis wie bei Elternabenden.“

Von einem so offenen Ansatz kann Katharina Schlumm vorerst nur träumen. Die Schulberaterin und Lehrerin für Mathematik und Physik an einer Potsdamer Oberschule stößt auch bei etlichen ihrer KollegInnen nicht auf positive Resonanz, wenn sie Vorschläge für einen stärker geschlechtergerechten Unterricht macht. „Leider ist vielen Lehrern gar nicht klar, wie sehr ihr eigenes Verhalten abfärbt. Geschlechtervorurteile werden nämlich zumeist subtil vermittelt, etwa indem ein Physiklehrer die Mädchen in der Klasse kaum wahrnimmt.“ Aber auch die SchülerInnen pflegen die überkommenen Rollenklischees, wenn nicht bewusst gegengesteuert wird. Katharina Schlumm: „Sobald ich in meinem Physikunterricht versuche, die Mädchen mit ungewöhnlichen Inhalten, etwa der Physik des eigenen Körpers, für das Fach zu interessieren, merke ich durchaus Widerstand.“ Umso wichtiger sei es, innerhalb des Kollegiums eine gemeinsame Linie zum Thema Geschlechtergerechtigkeit zu finden.

Landauf, landab finden sich inzwischen interessante Projekte. In der aktuellen Broschüre der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) „Eine Schule für Mädchen und Jungen“ werden etliche vorbildliche Konzepte vorgestellt, wie etwa das Schulprogramm der Ganztagsschule Stieghorst oder eine Unterrichtsreihe zum „Rollenbild in der Schöpfungsgeschichte“.

Die Broschüre will mehr, als allein vorbildliche Praxisbeispiele zu präsentieren. Sie liefert einen kurzen Aufriss der schulischen Geschlechterforschung, gibt LehrerInnen Anregungen, sich mit ihrer eigenen Haltung zu Beruf und Thema auseinanderzusetzen, und versucht, der geschlechtergerechten Bildung einen angemessenen Platz in der Bildungspolitik insgesamt zuzuweisen. Das allerdings, so gestehen die drei Lehrerinnen aus Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und Brandenburg gleichermaßen ein, sei keine leichte Aufgabe.