: Die Demokratie medium
Das Misstrauen gegen die Arbeit von Presseorganen wächst. Mehr noch: In Deutschland zeigt sich eine zunehmende Entfremdung der Bürger von den Medien. Dieses Problem, ein alarmierendes Zeichen für die Demokratie, teilt sich die „vierte Gewalt“ mit der Politik
von Rainer Nübel
Mitunter ist die Entfremdung der Bürger von den Medien sogar physikalisch messbar: an der Phonzahl des Protests. Im Stuttgarter Schlossgarten oder vor dem Bahnhof, bei Demonstrationen gegen Stuttgart 21, lag sie in den vergangenen Monaten sehr hoch – die Unmutsbekundungen gegen die örtliche Presse hallten häufig genauso massiv wie die „Mappus weg“-Rufe. Hier der Vorwurf, über die Köpfe der Bürger hinwegzuregieren, mit der „Arroganz der Macht“, dort die Kritik, an den „wahren“ Bedürfnissen und Interessen der Menschen vorbeizuschreiben, mit der fragwürdigen „Macht der Medien“. Oder noch eine Spur schärfer: hier das fast schon gängige Bild von der „korrupten“ Politik, dort das zunehmend verbreitete Diktum von der „käuflichen“ Presse.
Der Verdacht wiegt schwer, und er trägt längst nicht nur die rustikale Aura des Stammtisches, sondern ist in den gutbürgerlichen Mittelstand und ins Bildungsbürgertum diffundiert, wie ein schleichendes Gift: So wie die Politiker nur ihre eigenen Machtinteressen verfolgen und sich von den Lobbyisten wohlfeil manipulieren lassen, schreiben die Medien den Politgrößen und den Wirtschaftsbossen nach dem Mund, um ihren Einfluss zu wahren und Anzeigenkunden bei der Stange zu halten.
Protestler lieben nur den, der sie in ihrer Meinung bestätigt
Es ist ein Kardinalverdacht. Ausnahmen werden offenbar immer seltener gemacht. Und wenn, dann scheinen sie häufig dem Affirmationsprinzip zu folgen: Bestätigt das Medium durch Berichte oder Kommentare meine eigene Position, ist es gut und seriös – stellt es meine eigene Sichtweise in Frage, negiert oder karikiert sie sogar, dann ist es schlecht und ein Paradebeispiel für den inhaltlichen Verfall der Presse. Das Hamburger Magazin Stern etwa wurde bei Gegnern von Stuttgart 21 in den vergangenen Monaten regelrecht gefeiert, nachdem es in mehreren Berichten anhand geheimer Unterlagen das Planungschaos beim Mega-Bahnprojekt beleuchtet hatte. Der Spiegel dagegen kam bei vielen Protestlern schlecht weg, auch und vor allem deshalb, weil ein einzelner Redakteur des Nachrichtenmagazins in einem Kommentar die Demonstranten als „Wutbürger“ tituliert hatte, was sie nach ihrem Selbstverständnis keinesfalls sind. Man braucht kein Prophet zu sein: Bei einem anderen Großprojekt in dieser Republik können sich diese medialen Beliebtheitsquoten sehr rasch umkehren, je nach Inhalt der Berichterstattung und Kommentierung. Ihre Halbwertszeit scheint überschaubar zu sein.
Bei den Stuttgart-21-Protesten der vergangenen Monate ist die Entfremdung vieler Bürger von den Medien besonders evident geworden, das Problem an sich aber besteht seit Längerem. Und keineswegs nur in Stuttgart, sondern in der ganzen Republik. Häufig ist es das Gefühl, einer Macht ausgeliefert zu sein, die man zwar sieht, hört und liest, doch nicht richtig kennt. Das Misstrauen geht um. Ein zentraler Grund liegt bei den Medien selbst. Sie lassen seit Jahren das vermissen, was sie von Politik, Justiz oder Wirtschaft vehement und unermüdlich fordern: Transparenz.
Als „vierter Gewalt“ obliegt ihnen die Kontrolle der Macht, meist legen die Medien jedoch nicht offen, auf welcher Grundlage sie dieser Aufgabe nachkommen wollen. Sie versuchen, was ihre Aufgabe ist, Licht in dunkle Polit-Machenschaften, Filz und Abhängigkeiten zu bringen und hermetische Machtsysteme zu knacken, bleiben aber verschlossen und seltsam unnahbar wie eine Sphinx, wenn es dubiose Netzwerke in eigener medienpolitischer oder wirtschaftlicher Sache zu kommunizieren gälte. Sie schwingen den Eisenbesen im Kampf gegen Korruption in allen Gewalten – und kehren nicht oder nur selten vor der eigenen Haustüre, wenn es etwa um die durchaus gesellschaftsrelevante Frage geht, ob allen Journalisten das „Schmiergeld namens Nähe“ wirklich absolut fremd ist. Abhängigkeiten werden nicht thematisiert, Verflechtungen oder ausschließlich renditegetriebene Geschäftsmodelle verschwiegen.
Wie funktionieren Medien? Die Branche sagt dazu nichts
Ja, nicht einmal die elementaren Spielregeln ihrer Arbeit geben Medien gerne preis: Wie funktioniert Recherche? Was ist Informantenschutz? Welche Motivationen haben Whistle-Blowers? Wird für Informationen auch bezahlt?
Treffen Journalisten, was mitunter vorkommen soll, auf Mediennutzer, in Vorträgen oder Lesungen, dauert es gemeinhin nur Minuten, bis sie mit solchen Fragen bombardiert werden. Weil es die Bürger interessiert. Weil sich die Bürger für die Medien interessieren. Und weil ihnen bisher nie oder nur höchst selten Antworten gegeben wurden, offene, ehrliche, zuweilen auch schonungslose Antworten.
Die mangelnde Transparenz untergräbt die Glaubwürdigkeit der Medien. Die aber ist lebenswichtig für eine intakte Mediengesellschaft. Und sie ist, wenn man so will, das Brot der Demokratie. Die Distanz wächst jedoch, wo kein Wissen ist. Fast jeder nutzt Medien – ohne sie wirklich zu kennen. Nur ein kleiner Teil, medienerfahrene Macher aus Politik, Wirtschaft und öffentlichem Leben, weiß genau um die Spielregeln, die Geheimnisse, Kniffs und Tricks der Presse, beherrscht die Klaviatur der medialen Inszenierung. Eine Mehrheit in der modernen Kommunikationsgesellschaft lebt, was die konkrete Kenntnis über Medien angeht, jedoch fast noch in der Steinzeit. Oder wieder. Was insbesondere, obwohl man es kaum glauben wollte, für junge Menschen gilt.
Ein Beispiel: „Worin liegt der Unterschied zwischen einer Nachricht und einem Kommentar?“ Diese Frage nach dem medialen Einmaleins, jeweils zu Beginn eines neuen Semesters gestellt, führt im Hörsaal einer Hochschule im Raum Stuttgart regelmäßig zu ratlosen Gesichtern. Die Studenten sind offen und ehrlich: An die 70 Prozent geben unumwunden zu, dass sie den Unterschied nicht definieren können. Schlimmer noch: dass sie im Kommentar dasselbe sehen wie in einem berichteten Fakt. Es ist alarmierend. Wer Meinung nicht von Nachricht unterscheiden kann, würde es nicht merken, wenn er manipuliert wird.
Bei all diesen erschreckenden Zeichen mangelnder Transparenz dürfen sich die Medien nicht darüber wundern, dass die Tonart bei der Kundschaft rauer wird, dass pauschale Negativurteile Konjunktur haben. Und dass die Entfremdung der Bürger von ihnen rasant wächst. All dies wird nicht rasch zu ändern sein. So wie man einen Schalter umlegen würde. Man muss versuchen es zu ändern. In kleinen konkreten Schritten. Sonst wird die Demokratie nach und nach nur noch medium gelebt.
Der neue Kontext:Verein für Ganzheitlichen Journalismus sieht es als seine Aufgabe an, Transparenz herzustellen: indem den Bürgern hintergründig die Spielregeln von Medien vermittelt werden, indem sie darüber aufgeklärt werden, welchen Bedingungen veröffentlichte Meinung unterworfen ist und welche Schritte unternommen werden müssen, um Vertrauen wieder aufzubauen.
Offener Dialog mit Lesern, Hörern, Zuschauern ist nötig
Sehr wichtig ist dabei die Rückkehr zu einer Kommunikationsform, die in Zeiten anonymer „Userbefragungen“ ziemlich aus der Mode gekommen ist: zum offenen, kritischen Dialog mit Zeitungslesern, Rundfunkhörern, Fernsehzuschauern und Internetnutzern. Über all das wird in Kontext:Wochenzeitung in den nächsten Wochen und Monaten regelmäßig etwas zu lesen sein.
„Wie Medien ticken“: In der Stuttgarter Stiftung Geißstraße sind die ersten öffentlichen Veranstaltungen des Kontext:Vereins für Ganzheitlichen Journalismus bereits gelaufen. Keine zehn Minuten vergingen, bis geballt die Fragen der Bürger kamen, interessiert, energisch, aber auch sehr skeptisch: Wie kommen Journalisten an Informationen heran? An welche Grenzen stößt Recherche? Müssen Journalisten Mut haben? Wie groß ist der Einfluss der Politik und der Wirtschaft? Sind Medien käuflich?
Die nächste Veranstaltung „Wie Medien ticken“ findet am Freitag, 6. Mai, um 19 Uhr in der Stiftung Geißstraße in Stuttgart, Geißstraße 7, statt.