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Archiv-Artikel

„Der Mensch ist das höhere Gut“

Um Menschenleben zu retten, ist kein Preis zu hoch, sagt Medizinethikerin Annemarie Gethmann-Siefert von der Fernuni Hagen. Für den Fall, dass Menschen aber nicht weiterleben wollen, müsse es Regeln geben, die Sterbehilfe möglich machen

ANNEMARIE GETHMANN-SIEFERT, 61, ist seit 1991 Professorin für Philosophie an der Fernuni in Hagen.

INTERVIEW LUTZ DEBUS

taz: Frau Gethmann-Siefert, die Fernuniversität Hagen bietet den Master-Studiengang „Medizinethik“ an. Können Sie denn die Frage beantworten: Wie viel ist ein Menschenleben wert?

Annemarie Gethmann-Siefert: Kant hat uns einen Hinweis an die Hand gegeben, wie sich die Frage nach dem Wert des Menschenlebens beantworten lässt: Jede Ware hat ihren Preis. Der Mensch aber hat einen Wert, der jeden Preis übersteigt und daher auch die höchsten Kosten ökonomisch rechtfertigt. Ich kann also nicht die Frage stellen, ob es lohnt, einem Menschen Hilfeleistungen zukommen zu lassen. Denn der Preis für Hilfeleistungen, so groß er auch sein mag, untersteht dem Wert des Menschens.

Aber diese Frage wird doch ständig gestellt.

Um so schlimmer. Die prinzipielle Antwort muss da lauten: Alles, was machbar ist, um Leben zu retten, müssen wir machen. Wenn jemand meint, dass Intensivmedizin für Menschen im Alter von über 80 Jahren zu teuer ist, dann ist das ethisch gesehen nicht haltbar.

Der Bundesvorsitzende der Jungen Union, Philipp Mißfelder, hat vor ein paar Jahren gesagt, dass sich Hüftprothesen für Senioren nicht mehr lohnen.

Daran sieht man, dass Ethik bitter nötig ist, weil allzu oft undifferenziert argumentiert wird. Diese Aussage ist schlicht falsch. Und auch politisch nicht haltbar, weil unser Grundgesetz sich ausdrücklich an der These Kants orientiert: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“

Bei einem Orthopädenkongress war vor kurzem die Frage zu hören: Wollen wir einen Kilometer Autobahn mehr bauen oder wollen wir zehn Rentnern das Laufen wieder ermöglichen?

Die Frage ist berechtigt, denn schließlich sind unsere Mittel begrenzt. Und die Antwort ist sehr einfach. Die körperliche Mobilität eines Menschen ist ein höheres Gut als die Fähigkeit, ein paar Minuten eher mit dem Auto ans Ziel zu kommen.

Noch einmal zur Intensivmedizin für über 80-Jährige. Wann sollte man die Apparate ausschalten?

Wenn man das Thema nur medizinisch-technisch begreift, heißt die Lösung, den Tod um jeden Preis zu vermeiden. Das bedeutet Intensivmedizin in jedem Fall und immer. Und der Tod ist der GAU. Untersuchungen haben gezeigt, dass die Ärzte aus dem Zimmer gehen, wenn oder kurz bevor dieser GAU eintritt.

Und was sagen Sie als Medizinethikerin?

Für mich stellt sich die Frage: Was möchte der Betroffene? Wie möchte er sterben? Viele Patienten wollen die Intensivmedizin nicht. Sie wollen mit ihren Angehörigen über den zu wählenden Weg reden. Aus der Praxis hörten wir, wie schwer es ist, so eine Gesprächssituation herzustellen. Aber mit Totschweigen kann das Problem nicht aus der Welt geschafft werden. Wir müssen eine Kultur des Umgangs mit dem Sterben entwickeln. Man muss sich fragen: Ist ein selbst gestaltetes Sterben nicht wichtiger als ein Überleben um jeden Preis?

Das klingt nach Sterbehilfe.

Wenn man die Frage ethisch beantwortet, kommt man zu völlig anderen Schlüssen als die Politik. Wo aber hat die Politik ihre Direktiven her? Hören Sie sich an, was von den Kanzeln gepredigt wird. In unserem Staat sind nicht hundert Prozent der Bevölkerung christlich, schon gar nicht katholisch. Warum sollen wir uns an die Richtlinien einer bestimmten Religion halten?

Gibt es einen Disput zwischen Philosophie und Kirche?

Nein. Das liegt daran, dass die Kirchen nicht mit sich diskutieren lassen, besonders die katholische Kirche nicht.

Gegner der Sterbehilfe verweisen auf die Möglichkeiten der Palliativmedizin.

So wichtig die Palliativmedizin ist, viele Ärzte sagen, dass es Fälle gibt, die palliativ überhaupt nicht in den Griff zu bekommen sind. Bei einer Querschnittslähmung im Halswirbelbereich zum Beispiel sind die Patienten voll entscheidungsfähig. Was macht man, wenn die darum bitten, nicht mehr weiter leben zu wollen?

Was würden Sie sagen?

Man müsste ihnen eine Hilfe geben, menschenwürdig zu sterben – ohne Qualen und allzu große Schmerzen. In Belgien und den Niederlanden ist das rechtlich und geregelt möglich. Bei uns kommt dann immer das Dammbruchgejammer. Da wird gesagt: „Wenn wir das zulassen, wird jeder seine alten Angehörigen umbringen.“

Holland und Belgien hatten aber auch keinen Hitler. Es gibt doch auch historische Gründe, warum Sterbehilfe hierzulande anders bewertet wird.

Sollen üble Vergangenheitserfahrungen uns daran hindern, kluge Entscheidungen zu treffen? Rational würde man antworten: Nein. Manche Leute argumentieren aus dem Gewissen. Aber deren Gewissen ist nicht unser aller Gewissen. Man müsste sich auf Argumente einlassen.

Das klingt ja schon wieder nach Kant.

Ich bin Alteuropäer. Es gibt viele, die sagen, das europäische Vernunftprojekt habe ausgedient. Sollte es so sein, wäre es ein Jammer. Die Vernunft ist unsere Rettung, menschlich zu überleben.

Und das vermitteln Sie in Ihren Kursen?

Dort geht es um angewandte Ethik und praktisches Argumentieren. Wenn ich Englisch lerne, muss ich Vokabeln und Grammatik lernen. So ist es auch in der Medizinethik. Praktisches Argumentieren ist lehr- und lernbar. Die Ethik gibt allerdings keine Antworten.

Hat Ethik denn nicht eher etwas mit Gewissen als mit Wissenschaft zu tun?

Moralisches Handeln hat etwas mit Gewissen zu tun. Aber Ethik ist eine methodisch strenge Disziplin der Philosophie. Die Ethik beurteilt das Handeln. Ethik legt nicht fest, wie man in einem konkreten Fall entscheiden muss, sondern sie untersucht, ob diese Entscheidung legitim ist. Dieser Prüfung geht es nicht um Gefühle, sondern um Argumente.