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Archiv-Artikel

JAN FEDDERSEN über PARALLELWELTEN Die ist doch nicht krank!

Die Krippendiskussion verwirrt alle Köpfe – und befördert niederste, ja antimütterliche Instinkte. Schlimm das!

Die sind ja nicht mehr so. Beißen nicht, geben sich nicht nur freundlich, sondern sind es auch. Auf Verteidigung bedachte Kampfzellen, wie sie Postämter früher üblich waren … vorbei. Dafür moderiert in meinem Postamt sonnabends, bei besonders regem Kundeninteresse, der Filialleiter wie ein Conferencier: „Junge Dame, Sie brauchen Briefmarken und haben kein Kleingeld? Nun, das will ich Ihnen gern wechseln.“ Oder: „Ein schweres Paket? Ach nein, det jeht jar nich. Lassen Se mich mal.“ Hob es hoch und trug es für die alte Frau zum Schalter. Fehlt nur noch, dass die Beamten und Beamtinnen demnächst für die plärrenden Gören in den Kinderwagen Bonbons parat halten.

Neulich aber wurde die Atmosphäre dieser offenbar zu einer Wellnesszentrale ummodulierten Poststelle mitten im Rütlischulviertel von Neukölln empfindsam in Mitleidenschaft gezogen. Morgens um halb neun. Nur drei Mitarbeiter stehen an diesen Kommunikationscountern namens Schalter und nehmen Briefe und Päckchen entgegen und geben Briefmarken („Die bunten oder die einfarbenen?“) und Lebenshilfe („Ein billiges Schuhgeschäft? Eine Etage höher, bitte sehr“) heraus. Die Schlange wird lang, die Nerven halten alle im Zaum, niemand, absolut keiner ist nicht in Eile. Auftritt einer jungen Frau, flott das Kopftuch geschlungen, perfekt das Make-up, absolut wackelfrei ihr Gang auf den Pömps, geht an den Wartenden blicklos vorbei, gleich zum Schalter und sagt: „Guten Morgen, ich bin schwanger, drei Mal Päckchenporto und einmal eine Briefmarke für eine Postkarte, aber hübsch, bitte.“ Meine Warteschlange bekam auf der Stelle kollektive Schnappatmung. Und dann sagte ein junger Mann: „Stellen Sie sich an, wie wir. Wir alle!“ Die Gescholtene drehte sich, ohne ihn anzugucken, mit den lackierten Fingern über ihren Bauch – und widmete sich wieder ihren Bestellungen. Der Beamte guckte unwellnessmäßig ängstlich – wird die inzwischen zischelnde Schlange ihn erwürgen?

Eine punkgesträhnte Frau riss die Deutungshoheit dann an sich, Frauensache eben: „Ey, Olle, det is nich komisch, wa. Schwanger is doch nich krank.“ Einer beruhigte sie mit Mitgefühltem: „Aber sie trägt eine gute Last.“ Die Punkfrau retour: „Und? Kann ick det sehen?“ Der Filialleiter erschien, sagte: „Hier liegt eine schlechte Stimmung in der Luft. Wollen wir das?“ Der junge Mann, der als Erster seiner Wut Luft machte, versetzte ihm ein blankes: „Ja, wollen wir!“

Die junge Frau, der die Empörung gilt, genießt in diesen Sekunden alles. In aller Ruhe, ja wie im größten Seelenfrieden steckt sich absolut hinreißend ihre Postwertzeichen in die Handtasche und kann es auch nicht lassen, in Bruchteilen einer Sekunde sich noch ein Staubflöckchen von der Jacke zu nesteln. Sie ist, so oder so, schwanger oder schummelschwanger, die Königin. Wir, ihr Volk, müssen zusehen, wie sie uns einfach zum Pöbel performt. Das Tabu, auf das sie setzt, ist ja: Man weiß ja nie, ob man, würde man handgreiflich, sie in eine pränatale Ohnmacht brächte, ob sie, wäre das mies, in Unpässlichkeit geriete. Mütter macht man eben nicht an und zweifelt nicht an ihrer absoluten Unberührbarkeit. Andererseits hat der Conferencier an diesem Morgen das Problem, dass er seine Wellnesspost ja schlecht in „Schwangere genießen Vorrechte“-Laden umetikettieren kann. Die anderen Kunden!, die sollen sich doch alle wie in einer Post aus moderner Zeit fühlen. Gut und aufgehoben und geborgen und von plätschernden Geräuschen umgeben, als solle man beim Gang ins Postamt den Komfort von Fruchtwasser nicht missen müssen.

Die bestaunte, verhasste, angebetete Schwangere stöckelt dem Ausgang entgegen. Königin Elizabeth II. könnte nicht perfekter das sie Umgebende ignorieren. Wir, die Schlange, haben gelernt: Die Krippendiskussion wurzelt noch viel tiefer. In irgendwas, was sich auf Mutter und Leiden reimt. Der Filialleiter lächelt: „Wie schön. So ist unser Neukölln. Menschen haben Kontakt.“ Er liegt so recht. Plötzlich lächeln alle, die Schlange löst sich auf, das Leben hat wieder Normaltemperatur.

Schwanger? kolumne@taz.de Morgen: Philipp Maußhardt über KLATSCH