: Eltern wehren sich
Die Aufregung um den Schulreport des UN-Sonderberichterstatters Vernor Muñoz ist kaum verraucht, da meldet sich der Türkische Elternbund in Hamburg zu Wort. Muñoz habe Recht, Migrantenkinder würden an den Schulen zu Verlierern gemacht
In Hamburg wurde die Aussagekraft der Schullaufbahnempfehlungen für Gymnasium oder Haupt- und Realschule 2003 im Rahmen der KESS-Grundschulstudie untersucht. Der Bildungsforscher Wilfried Bos hat dafür die Lesekompetenz der Viertklässler mit den Empfehlungen verglichen. 60 Prozent konnten so gut lesen, dass im Prinzip „jede Schullaufbahnempfehlung möglich ist“, fand Bos heraus. Aber tatsächlich wird nur ein gutes Drittel der Kinder fürs Gymnasium empfohlen. Für ein Kind aus der „oberen Dienstleistungsschicht“ ist es selbst bei gleicher Leistung und Intelligenz 2,5 mal wahrscheinlicher, fürs Gymnasium empfohlen zu werden, als für ein Kind aus der unteren Schicht. „Die Lehrer machen das durchaus bewusst“, sagt Bos. Sie wüssten halt, dass der Chefarztsohn vom Elternhaus genügend Unterstützung erhalten kann, „die Tochter der türkischen Putzfrau aber spätestens an der zweiten Fremdsprache scheitert“. KAJ
von DANIEL WIESE
Als Vernor Muñoz, Menschenrechtsinspektor der Vereinten Nationen (UN) vor einem Monat mit dem deutschen Schulsystem abrechnete, war das Geschrei groß. Muñoz sei nur „zehn Tage durch Deutschland gereist“, stichelte der niedersächsische Kultusminister Bernd Busemann (CDU), in dieser Zeit habe er sich ja wohl kaum ein Bild machen können. Der schulpolitische Sprecher der CDU in Hamburg, Robert Heinemann, spöttelte, Muñoz müsse „ein Genie sein“, wenn er es geschafft haben sollte, in so kurzer Zeit das deutsche Schulsystem zu durchdringen.
Auf offene Ohren stieß Muñoz’ Kritik am selektiven deutschen Schulsystem dagegen beim „Türkischen Elternbund Hamburg“, der gestern unter dem Eindruck der UN-Schelte für Deutschland eine Pressemitteilung herausgab, „Bildungsrecht ist Menschenrecht“ überschrieben. „Unsere Erfahrungen decken sich mit den Aussagen des UNO-Sonderberichterstatters“, heißt es da.
Muñoz hatte unter anderem kritisiert, dass die persönliche Beurteilung durch die Lehrer entscheidend für die schulische Karriere sei. „Die Empfehlungen sind absolut nicht konform mit dem, was die Leistungen hergeben“, sagt Malik Karabulud vom Vorstand des „Türkischen Elternbundes“. Einmal im halben Jahr, bei der Zeugnisvergabe, habe man zehn Minuten Zeit, mit den Lehrern zu sprechen, und am Ende heiße es dann: „Ihr Kind ist nicht klug genug.“
Viele türkische Eltern könnten nicht gut genug Deutsch, um sich zu wehren, gibt Karabulud zu. Aber selbst wenn sie es täten, hätten sie keine Chance. Die Eltern beschwerten sich dann beim Direktor, der ein Gutachten erstelle und der Schulaufsicht vorlege, die die Gutachten wiederum in 95 Prozent der Fälle bestätige.
Oft würden die Lehrer sagen: „Sie als Eltern sind keine Pädagogen.“ „Das ist ein Totschlagsargument“, sagt Karabulud. „Was wollen Sie darauf sagen?“ In einer Grundschule in Hamburg-Altona seien kürzlich gleich drei türkische Kinder auf die Sonderschule verwiesen worden. „Die Eltern sind aufgelöst zu uns gekommen“, der Elternverein habe daraufhin mit der Direktorin gesprochen. „Die hat überhaupt keine Argumente geliefert“, sagt Karabulud.
Es hieß dann, „ja, der kann nicht ruhig sitzen“, oder „der stört den Unterricht“, oder „der ist hyperaktiv“. Bei einem der Schüler habe sich herausgestellt, dass ein Intelligenz-Test durchgeführt worden war, ohne dass die Eltern davon wussten. „Es ist haarsträubend, was da an den Schulen abgeht“, sagt Karabulud, der selbst Vater von drei Kindern ist.
44 Prozent der schulischen Empfehlungen seien falsch, das würden Untersuchungen belegen, schreibt der Türkische Elternbund in seiner Pressemitteilung. In diese Richtung weist auch die Grundschul-Studie KESS, die zuletzt vor drei Jahren von der Universität Hamburg durchgeführt wurde (siehe Kasten).
„Ich weiß nicht, woher die die Zahlen haben“, sagt der Pressesprecher der Hamburger Schulbehörde, Alexander Luckow. „Von uns jedenfalls nicht.“ Dass es „Probleme mit der Durchlässigkeit des Schulsystems“ gebe, sei allerdings nicht zu leugnen, das habe die Hamburger Schulsenatorin Alexandra Dinges-Dierig auch so gesagt (CDU). Hamburg versuche derzeit gegenzusteuern, indem es bei der Sprachförderung nachbessere, sagt Behördensprecher Luckow. Unter anderem solle bei Kindern, die Deutsch nicht als Muttersprache sprechen, die Sprachförderung schon in der Vorschule ansetzen und verpflichtend sein.
„Die gesamte Sprachproblematik ist eben vernachlässigt worden“, sagt Luckow. Wenn man dem Türkischen Elternverein glaubt, hat sich die Lage bislang noch nicht verbessert. Karabulud erzählt von Sprachstand-Erhebungstests, die auf Tonband aufgezeichnet und zentral ausgewertet würden. Wenn diese Tests zeigten, dass ein Kind zusätzliche Sprachförderung bekommen müsse, bedeute das aber noch lange nicht, dass dies anschließend auch geschehe. „Die Lehrer sagen, wir schaffen gerade unser normales Pensum, wir können keine zusätzlichen Stunden geben.“
Seit letztem Jahr hätten sich die Klagen beim Türkischen Elternbund gehäuft, sagt Karabulud, deswegen sei man nun, als der Muñoz-Bericht kam, an die Öffentlichkeit gegangen. Behördensprecher Luckow gibt den Ball zurück. „Elternsein ist auch eine Bringschuld“, sagt er. Viele türkische Eltern würden sich an den Schulen kaum blicken lassen.
Dennoch möchte der Behördensprecher nicht ausschließen, dass auch an Hamburger Schulen Dinge schieflaufen. Die türkischen Eltern könnten dann aber auf die Bildungsbehörde zählen. „Wenn sie ungerecht behandelt werden, sollten sich bei uns beschweren.“