Die Sackgasse der glasklaren Gegensätze

Das Deutsche Historische Museum Berlin hat in seiner Ausstellung „Parteidiktatur und Alltag in der DDR“ zwar interessante Fundstücke. Die Verwicklung von Repression und Nischenfreiheit aber bekommt es so nicht in den Griff. Denn es hält an der eindeutigen Trennung zwischen „Oben“ und „Unten“ fest

Trotz politischer Machtlosigkeit waren die Beherrschten in einer starken Position

VON CHRISTIAN SEMLER

Was die DDR angeht, die „ehemalig“ zu nennen eine offensichtlich unausrottbare Marotte der Medien darstellt, befindet sich das Deutsche Historische Museum (DHM) in Berlin in einer komfortablen Situation. Nicht nur hat es das Historische Museum der DDR beerbt, verfügt also über einen beträchtlichen Bestand aus der Geschichte der Arbeiterbewegung, von DDR-Staatskunst und Staatsreliquien – wie etwa den Schreibtisch des Genossen und ersten Staatspräsidenten Pieck – und anderen Insignien der Herrschaftsausübung.

Die Museumsleitung des DHM hat darüber hinaus in den frühen 90ern, einem bemerkenswerten demokratischen Impuls folgend, die DDR-Bevölkerung aufgefordert, dem Museum Gegenstände des täglichen Gebrauchs, persönliche Andenken, Dokumente der Zeitzeugenschaft zu überlassen. Die Kampagne „Die DDR gehört ins Museum“ endete seinerzeit mit einem überwältigenden Erfolg.

Aus den Beständen des DHM wurde nicht nur die der DDR gewidmete Abteilung einer ständigen Ausstellung zur deutschen Geschichte bestückt, sondern eine Reihe weiterer einschlägiger Großausstellungen des letzten Jahrzehnts. Gestern nun nahmen die Museumsleute des DHM einen neuen Anlauf, um mit der Ausstellung „Parteidiktatur und Alltag in der DDR“ beides zu zeigen: die sozialistische Staatsmacht, das „Oben“, und die Bevölkerung der DDR, das „Unten“. Ein ambitioniertes Unternehmen, denn die Beziehungen zwischen denen „oben“ und denen „unten“ folgten auch in der Geschichte der DDR einer vertrackten Dialektik, die sich nicht auf die einfache Gegenüberstellung von Herrschaft und Unterwerfung reduzieren lässt.

Womit wir den politischen Ort bezeichnet haben, besser den Kampfboden, den die Museumsleute mit den Stichworten „Alltag“ und „Parteidiktatur in der DDR“ betreten haben. Denn über beide Begriffe ist ein heftiger Streit entbrannt, seit im Sommer letzten Jahres eine Expertenkommission Vorschläge zur Neuordnung der DDR-Gegenwartsmuseen vorlegte. Dabei ging es vor allem um Folgendes: Im Gutachten hieß es, „in der gegenwärtigen Gedenklandschaft bleiben insbesondere Alltag und Widerstand der diktaturunterworfenen Bevölkerung weitgehend ausgeblendet und damit auch die spannungsvolle Wechselbeziehung zwischen Herrschaft und Gesellschaft, zwischen Akzeptanz und Auflehnung, Begeisterung und Verachtung, missmutiger Loyalität und Nischenglück“.

Gegen diese Einschätzung erhob sich Protest von einigen Museumsleuten wie Hubertus Knabe und von einigen Bürgerrechtlern wie Freya Klier. Sie ordneten das Gutachten in eine um sich greifende Geisteshaltung ein, die den Unrechtscharakter, die allgegenwärtige Unterdrückung, die Zerstörung jeder autonomen Lebensperspektive in der DDR zukleistere. Die die Rolle der Unterdrückungsorgane verharmlose, indem sie eine quasi herrschaftsfreie Idylle, eben den Alltag der DDR-Bürger, zeichne. Die Mehrheit der Gutachter und die meisten Teilnehmer der Debatte wiesen demgegenüber darauf hin, dass in der Forschung wie in der Öffentlichkeit der Staatssicherheit der DDR eine übergroße Bedeutung zugeschoben worden war, während es an empirischen Untersuchungen über die Lebenswirklichkeit in der DDR bis heute mangelt. Nicht auf die abstrakte Gegenüberstellung von „Alltag“ und „Diktatur“ käme es also an. Sondern auf ein besseres Verständnis, wie die Bevölkerung auf den Herrschaftsapparat und dieser auf die Antworten der Bevölkerung reagiert habe.

Wie positioniert sich nun die Ausstellung „Parteidiktatur und Alltag in der DDR“ in diesem Streit? In den zwei Geschossen des Pei-Baus wurden zwei thematische Großfelder angelegt: im Untergeschoss die Arbeitsgesellschaft der DDR, im Obergeschoss der familiäre, der Wohn- und Freizeitzusammenhang. Auf dem Fußboden des Untergeschosses findet sich der Grundriss einer Abteilung des Eisenhüttenkombinats Ost alias Josef-Stalin-Kombinat. Im Obergeschoss steht ein original Plattenbauelement aus Marzahn auf dem Grundriss eines gebräuchlichen Wohnungstyps der „Platte“ – eine hübsche Duplizierung auf beiden Fußböden.

In beiden Feldern umrahmt der Staatsapparat mit den Symbolen seiner Macht den gesellschaftlichen Bereich, was auch durch eine dunklere Farbgebung in der „Staatssphäre“ zum Ausdruck kommt. Allerdings erzählen uns die bronzenen Köpfe von Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg oder Ernst Thälmann nichts darüber, welchen Gebrauch beziehungsweise Missbrauch die SED mit den revolutionären Altvorderen trieb. Wie überhaupt die Ideologie des Marxismus-Leninismus, immerhin Pflichtfach und damit Bestandteil der Alltags, völlig im Dunkeln bleibt. Eine gravierende Auslassung, zeigen sich doch noch heute bei vormaligen DDR-BürgerInnen häufig Gedankenfiguren aus dem Arsenal des „ML“.

In den Bereich der Arbeitsgesellschaft ragt ein spitz zulaufender, mit Plexiglas umschlossener Keil, in dem sich ein riesiger Karteikasten befindet. Er enthält die Namen aller, die jemals auf irgendeine Weise mit den Überwachungsorganen der DDR in Berührung gekommen sind – fünf Millionen Einträge. Die Ausstellung hält auch zahlreiche Dokumente bereit, aus denen hervorgeht, wie das Leben durch Reglementierungen und durch Kontrolle seitens der Staatsmacht beeinflusst wurde – so durch die Hausbücher, wo jeder Besucher eingetragen werden musste, der länger als zwei Tage bei einer Familie zu Gast war.

Für eine Demonstration des Ineinanders von Staatsmacht und Bevölkerung hätte sich in der Ausstellung die Behandlung des Brigadesystems angeboten. Die Brigade umfasste in der DDR-Fabrik in der Regel jeweils eine Schicht von Arbeitern. Wenn sich die Brigade in der Arbeit auszeichnete und am kulturellen Leben teilnahm, bekam sie das Prädikat „sozialistisch“ – zu Honeckers Zeiten erreichten immerhin 85 Prozent der Brigaden dieses Ziel. Obwohl ohne abgesicherte Rechte, entwickelte sich die Brigade in vielen Fällen zu einem Schutzwall gegenüber den Anforderungen der Leitungen. Sie wurde zur „zweiten Familie“, zur „zweiten Heimat“.

In der Ausstellung wird zwar der gesellige Aspekt der Brigaden durch einen Bierkasten betont, aber es gelingt nicht, die Doppelbedeutung der Brigaden, damit auch ihr subversives Potenzial zu zeigen. Dies wäre nur möglich gewesen, wenn das genaue Bild einer Brigade mit Fotos und Interviews der Brigadisten über einen längeren Zeitraum gezeigt worden wäre.

Allgemein gesprochen, verpasst die Ausstellung die Chance, an konkreten Beispielen zu zeigen, wie trotz politischer Machtlosigkeit die Beherrschten relativ starke Positionen innehatten – beispielsweise durch den Mangel an Arbeitskräften. Oder wie sie sich durch findige Methoden den Anforderungen der Staatsmacht zwar nicht widersetzten, aber entwanden. Die von DDR-Alltagsforschern entwickelte und auch von dem Zeitgeschichtler Martin Sabrow in seinem Katalogbeitrag genutzte Kategorie des Eigen-Sinns der Machtunterworfenen findet sich nicht in der Ausstellung wieder.

Dabei bezeichnet Eigen-Sinn genau die Haltung, nicht nur passiv auf Befehle von oben zu reagieren, sondern sie im eigenen Interesse zu interpretieren, sie umzuformen, ihnen einen „eigenen“ Sinn zu geben. Sabrow selbst verwendet in seinem Aufsatz das Beispiel von Berichten, die DDR-Akademiemitgliedern nach Westreisen abverlangt wurden. Dabei zeigt sich, dass statt konkreter, für das MfS verwendbarer Informationen von den Westreisenden häufig linientreue Stereotype verwandt wurden, aus denen hervorging, wie erfolgreich sie im Westen die Sache des DDR-Sozialismus vertreten hätten. Solche Berichte hätten sich, obwohl nur papierene „Flachware“, in der Ausstellung durchaus gut gemacht.

Die nicht chronologische, sondern thematische Unterteilung der Ausstellung ist eine gute, den Blick erweiternde Idee. Sie hat allerdings zur notwendigen Folge, dass die Wellenbewegung von Aufstieg und Krise bis zum endgültigen Niedergang, immerhin eine Periode von vierzig Jahren, nicht exemplarisch dargestellt werden kann. Weshalb auch der Zyklus von Hoffnungen und Enttäuschungen, der die Grundlage so vieler DDR-Biografien bildet, in der Ausstellung nicht einsichtig wird. Überhaupt scheint es, dass die Biografieforschung, die in den letzten fast zwanzig Jahren unser Wissen vom DDR-Alltag erweitert hat, für die Ausstellungsmacher keine Quelle der Inspiration gewesen ist.

Noch bei der Pressevorführung kam es unter Kollegen, nicht unerwartet, zu heftigem Streit. Ob die Ausstellung in richtiger Weise die Lebenswirklichkeit in der DDR wiedergebe oder bloß ein aufgesetzter Diskurs über den Totalitarismus am Beispiel der DDR sei. Ob man sich und seine Biografie in der Ausstellung „wiedererkennen“ könne. Ob es nicht doch ein richtiges Leben im falschen gegeben habe. Würde die Ausstellung während ihrer Laufzeit viele solcher Diskussionen provozieren, wäre sie trotz ihrer Mängel gerechtfertigt.

Die Ausstellung geht bis zum 30. Juli