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Archiv-Artikel

„Man macht auch Fehler durch Nichtstun“

Rot-Grün ist mit verantwortlich für die lange Haft von Murat Kurnaz, sagt Barbara Lochbihler. Die Regierung hat sich nicht genug für eine Freilassung eingesetzt – sondern alles getan, um den Deutschtürken aus Deutschland fernzuhalten

BARBARA LOCHBIHLER, geboren 1959 in Obergünzburg im Allgäu, ist seit 1999 Generalsekretärin der deutschen Sektion der Menschenrechtsorganisation amnesty international. Die studierte Politologin und Sozialpädagogin war zuvor sieben Jahre Generalsekretärin der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit in Genf. Lochbihler hat einige Sitzungen des BND-Untersuchungsausschusses zum Fall Kurnaz in Berlin mitverfolgt.

taz: Frau Lochbihler, Sie saßen auf der Zuschauertribüne im BND-Untersuchungsausschuss und haben Außenminister Frank-Walter Steinmeier sechs Stunden lang beobachtet, als er sein Verhalten im Fall Murat Kurnaz erklärte. Wie bewerten Sie seinen Auftritt?

Barbara Lochbihler: Ich habe natürlich besonders gut zugehört, als es um menschenrechtliche Verantwortlichkeiten ging. Da hat es mich erstaunt, dass Steinmeier so gut wie überhaupt nicht den Schutz der Menschenrechte angesprochen hat. Er hat nie erwähnt – aber das erwarte ich eigentlich von einem deutschen Außenminister –, dass die Bundesregierung die Aufgabe hat, sich dafür einzusetzen, dass Menschen aus solchen menschenrechtswidrigen Situationen herauskommen. Wohlgemerkt: die Aufgabe, und eben nicht die Wahlfreiheit, zu entscheiden, ob sie humanitär tätig werden wollen oder nicht. Ganz offensichtlich hatten die Politiker, die über Kurnaz entschieden haben, einen Tunnelblick, und dieser war ausschließlich auf die Sicherheitslage gerichtet.

Was werfen Sie Außenminister Steinmeier vor?

Aus meiner Sicht hat die damalige rot-grüne Regierung eine Mitverantwortung für die lange Haft von Murat Kurnaz, weil sie sich nicht genug dafür eingesetzt hat, seine Freilassung zu erreichen. Sie hat die Möglichkeiten nicht genutzt, seine Haftzeit zu verkürzen, sondern alles getan, um Kurnaz von Deutschland fernzuhalten. Die Politik hat den Menschen Kurnaz nicht mehr gesehen.

Steinmeier sagte, nicht nur Kurnaz hat ein Gesicht, sondern auch die Menschen, die man vor Terror schützen müsse, und die Menschen, die durch Terror umgekommen sind. Finden Sie diese Gegenüberstellung gerechtfertigt?

Die Regierung hat die Pflicht, ihre Bürger bestmöglich zu schützen, keine Frage. Aber nicht, indem Menschenrechtsstandards aufgeweicht oder Einzelne nicht vor Menschenrechtsverletzungen geschützt werden. Genau das ist aber im Fall Kurnaz passiert. Es hat gravierende Fehler gegeben. Entlastende Momente, wie die Berichte der eigenen Geheimdienstmitarbeiter, dass Kurnaz gar keinen Kontakt zu terroristischen Strukturen hatte, wurden ebenso wenig zur Kenntnis genommen wie das Urteil der US-Richterin Green, Kurnaz sei unschuldig. Die Folge waren viereinhalb Jahre Haft unter schlimmen Bedingungen für Murat Kurnaz.

Können Sie nachvollziehen, dass die damalige Regierung zu dem Schluss kam, Kurnaz sei eine Gefahr für Deutschland?

Ich kann mir vorstellen, dass sie unter dem unmittelbaren Eindruck der Anschläge vom 11. September auf keinen Fall wollten, dass gefährliche Personen nach Deutschland kommen. Im Untersuchungsausschuss ging es aber nicht nur um die Reaktion 2002. Dass die deutsche Regierung bis 2005 bei ihrer Haltung blieb, kann ich überhaupt nicht mehr verstehen. Sie hätte alles dransetzen müssen, um Kurnaz aus Guantánamo rauszuholen und dann hier in ordentlichem Verfahren zu klären, was dran ist an den Verdachtsmomenten.

Welche Konsequenzen müssten daraus gezogen werden?

Mir geht es darum, dass sich die Verantwortlichen die Frage stellen: Was lernen wir daraus, damit so etwas nicht mehr passiert? Ich bedauere es sehr, dass Steinmeier im Ausschuss den Vorschlag abgelehnt hat, künftig einen Menschenrechtsbeauftragten in die Präsidentenrunde der Sicherheitschefs im Kanzleramt aufzunehmen. Das wäre ein Schritt, um den Tunnelblick zu verhindern.

Was müssen wir aus dem Fall Kurnaz lernen?

Auch Personen, die man für gefährlich hält, verlieren nicht ihre Menschenrechte. Da ist es unerheblich, ob jemand formal ein Deutscher oder ein Türke ist. Die Regierung wiegelt jetzt ab, wenn sie sagt, dass sich ja die Türkei für Kurnaz hätte einsetzen sollen. Es ist unklar geblieben im Ausschuss, ob sich die türkische Regierung überhaupt zuständig gefühlt hat. Außerdem ist Kurnaz hier geboren und hat sein Leben lang hier gelebt; würde das neue, unter Rot-Grün erlassene Staatsbürgerschaftsrecht für ihn gelten, hätte er einen gesetzlichen Anspruch auf die Staatsbürgerschaft. Ich habe bei Steinmeier und Schily die Erkenntnis vermisst, dass eine deutsche Regierung eine Verantwortung für jeden bedrohten Menschen hat – erst recht, wenn er hier geboren ist. Es ist schon schade, dass der Außenminister über ein Bedauern für Kurnaz nicht hinausgekommen ist. Anderen Guantánamo-Insassen aus anderen Ländern hat es bei der Aufarbeitung des Erlittenen geholfen, dass sich die Regierung entschuldigt hat.

Steinmeier sagt, entschuldigen könne man sich nur für ein Fehlverhalten – und das sehe er in seinem Fall nicht. Richtig oder falsch?

Er hat sich nicht energisch dafür eingesetzt, dass ein in Deutschland beheimateter Mensch freikommt. Man macht auch Fehler durch Nichtstun. Rot-Grün war angetreten, die Menschenrechte zu einer Leitlinie ihrer Politik zu machen. Wer das ernst meint, muss Menschenrechte gerade dann durchsetzen, wenn das politisch vielleicht nicht opportun erscheint oder riskant ist. Davor hat die rot-grüne Regierung zurückgeschreckt, als es für Murat Kurnaz darauf ankam.

Die Oppositionspolitiker Neskovic und Ströbele stellen in Frage, ob es weiter Informationsaustausch mit den USA wie bisher geben sollte. Zu Recht?

Ich würde nicht sagen, generell keine Infos mehr an die USA. Aber man muss ganz genau im Einzelfall sicherstellen, dass Informationen nicht in einem rechtsstaatswidrigen Verfahren verwendet werden.

Ist das praktikabel?

Es gibt ja Beispiele. Die Staatsanwaltschaft Bremen hat entschieden: Das, was sie über Kurnaz wissen, geben sie nicht weiter. In einem anderen Fall hat sich ein Geheimdienstmitarbeiter geweigert, an einer Vernehmung teilzunehmen, als er sah, dass der Mann gefoltert wurde. Zum Informationsaustausch sage ich: Wenn die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass diese Informationen dazu führen, dass jemand misshandelt oder gefoltert wird, dann geht es nicht.

Steinmeier meint, Geheimdienstzusammenarbeit könne nicht funktionieren, wenn eine Seite keine Erkenntnisse über Verdächtige weitergibt.

Da frage ich zurück: Wie vereinbaren Sie das mit einer stringenten Menschenrechtspolitik? Man kann nicht alles mit Sicherheitsinteressen begründen.

Es wird oft erklärt, dass der Informationsaustausch wichtig ist, weil man zur Gefahrenabwehr Informationen braucht – auch solche, die unter Folter entstanden sein könnten.

Woher aber wissen Sie, dass durch Folter Wahrheit erzeugt wird? Der oft zitierte Fall, dass man durch Folter einen Bombenanschlag verhindern kann, ist noch nie vorgekommen. Wer immer wieder diesen arg konstruierten Fall anführt, will eine Sicherheitspolitik, die Menschenrechte hintenanstellt. In Israel war Folter einige Zeit erlaubt. Das hat nicht zu mehr Sicherheit geführt. Es hat nur dazu geführt, dass Polizisten dazu gebracht werden, zu foltern. Also hat man die Folter dort wieder verboten. Das Problem ist, dass die Sicherheitsbehörden und die Politiker, die dafür zuständig sind, ihre Hilflosigkeit erklären müssten. Sie müssten zugeben, dass sie in einer Welt wie der heutigen keine absolute Sicherheit herstellen können. INTERVIEW: JENS KÖNIG, LUKAS WALLRAFF