OFF-KINO : Filme aus dem Archiv – frisch gesichtet
Eine Woche der Meisterwerke. Claude Chabrol hielt beispielsweise F. W. Murnaus „Sunrise – A Song of Two Humans“ für den schönsten Film der Welt. Tatsächlich war „Sunrise“ ein absoluter Glücks- und Sonderfall: Die Fox hatte dem Starregisseur aus Europa 1926 den roten Teppich in Hollywood ausgerollt und ließ ihn den Film nach eigenem Gutdünken drehen – Carte blanche! Alsbald machte sich Murnau an die Verfilmung von Hermann Sudermanns Novelle „Die Reise nach Tilsit“, einer Geschichte um einen nicht ausgeführten Mord während einer Bootsfahrt und den Versuch eines Bauern, das verlorene Vertrauen seiner Frau bei einem gemeinsamen Aufenthalt in der Stadt zurückzugewinnen. Der zögerliche Neuanfang wird zum großen Abenteuer, bei dem alltägliche Dinge wie die Fahrt mit der Straßenbahn und die Jagd nach einem in der Tombola gewonnenen Ferkel bei den Provinzlern für Vergnügen sorgen. Auch für den Film sind diese Szenen nach den düsteren Bildern des melodramatischen Anfangs ein Neubeginn, in dem man in jedem Moment die Freude an der nun leuchtenden Fotografie und an der ständigen Bewegung spürt. Wie zuvor bei der UFA ließ Murnau mit enormen Aufwand die Schauplätze des Films – einen Wald, eine Kirche, den Schienenstrang der Tram sowie einen Jahrmarkt – im Studio errichten: Man „baute“ gewissermaßen jede Einstellung extra auf. „Sunrise“ gewann Oscars – doch ein Erfolg wurde der Film nicht. Und so schaute man Murnau bei seinen nachfolgenden Projekten stets genau auf die Finger – glücklich wurde der Regisseur bis zu seinem frühen Tod in Hollywood nicht mehr. (28. 4., Tilsiter Lichtspiele)
Ein Genie war bekanntlich auch Orson Welles, dem das RKO-Studio nach seinen Erfolgen am Theater und beim Radio 1941 ebenfalls freie Hand für seinen Debütfilm „Citizen Kane“ ließ: Kein Produzent hatte das Recht, sich die Muster anzusehen und Änderungen zu verlangen – Welles brauchte dem Studio erst wieder mit dem fertigen Film unter die Augen zu treten. Doch es kam, wie es kommen musste: Von intellektuellen Kritikern zwar gelobt, fiel das neoexpressionistische Puzzle-Porträt eines Medienmoguls mit der für damalige Verhältnisse relativ komplizierten Erzählweise (nicht chronologische Rückblenden) beim Publikum durch. Welles ereilte im Folgenden ein ähnliches Schicksal wie Murnau oder zuvor Stroheim: Pfleglich ist das amerikanische Studiosystem mit seinen Genies nie umgegangen. (4. 5., Filmmuseum Potsdam)
Nach so viel filigraner Filmkunst noch schnell ein Hinweis auf einen der großen „Primitiven“ der Leinwand: Samuel Fullers Western „Forty Guns“ aus dem Jahr 1957 spielt ebenfalls in einer ganz eigenen Liga. Nur Fuller traute sich, in einem schwarzweißen CinemaScope-Film eine Schnittfolge zu wagen, bei der ein betrunkener Raufbold während eines Duells bald nur noch die leinwandfüllenden Augen seines entschlossen auf ihn zukommenden Gegners sieht und von diesem Anblick so irritiert ist, dass er sich schließlich ohne Gegenwehr niederschlagen lässt … (1.–3. 5., Arsenal) LARS PENNING