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Archiv-Artikel

Auf die Eins warten

Obwohl selbst noch Riesenbaustelle, suchte das HKW am Samstag nach Musiken jenseits von Willen und Diskurs: Das 8-Stunden-Konzert „Meine Zeit“ wurde zu einem Event für Beflissene, das sich am ehesten als Naturereignis beschreiben lässt

VON BJÖRN GOTTSTEIN

Im Laufe dieses denkwürdigen Konzerttages im Haus der Kulturen der Welt drängten sich einige Fragen mehrfach auf. Sie lassen sich gut in einem pseudobuddhistischen Paradoxon bündeln. „Meister, wohin wollen all diese Töne?“ – „Sie wollen nirgendwohin.“ – „Aber Meister, wenn sie nirgendwohin wollen, woher kommen sie dann?“ – „Sie kommen dorther, wo sie hinwollen.“ Ganz gleich, ob man dieses Rätsel nun auf Morton Feldmans Trio „for Philip Guston“ bezog, auf das rückgekoppelte Mischpult von Toshimaru Nakamura oder die sich selbst genügenden Drones von FM3 und The Necks – die meisterliche Antwort galt für sie alle und blieb dabei widersprüchlich und offen.

An Bildern, mit denen sich die an diesem Marathontag aufgeführten Musiken beschreiben lassen, mangelt es nicht. Man stelle sich beispielsweise einen Glühwürmchenschwarm vor. Die Lichter erscheinen und verdimmen scheinbar planlos. Aber das Bild hinkt, denn die Glühwürmchen verfolgen ja streng genommen ein bestimmtes Ziel. Eher noch ließe sich die Zusammenhangslosigkeit der gehörten Klänge mit den Lichtern der Pole oder der Sterne vergleichen. Vielleicht aber könnte man sich am ehesten darauf einigen: Die Musik, die am Samstag im HKW zu hören war, kam einem Naturereignis gleich.

Im Mittelpunkt der insgesamt achtstündigen Veranstaltung stand Morton Feldmans „for Philip Guston“, das der New Yorker Komponist dem befreundeten Maler 1984, vier Jahre nach dessen Tode, widmete. In diesem epochalen, späten Stück führt Feldman seine Ästhetik konsequent an ein Ende. Klänge bedeuten nichts; sie existieren nur um ihrer selbst willen. Die Musik spricht oder redet nicht, sondern führt ein Eigenleben, das der Idee vom tönenden Diskurs spottet. Mit seiner Besetzung – Flöte, weiches Schlagzeug sowie Klavier und Celesta – wirkte das auratische Klangbild fast ein wenig kitschig. Aber die Musiker des Trio Nexus klärten das Ganze, spielten ohne Ausdruck und Vibrato, stellten die Töne hin und ließen sie stehen.

Natürlich hat Feldman seine Klänge nicht willkürlich gesetzt. Auch wenn das Material reduziert ist und die Instrumente getragene, einfache Figuren zu spielen haben, klingen sie doch niemals synchron, sondern in den Tempi gegeneinander verschoben. Was gerade noch Auftakt war, ist auch schon Nachhall. Was gerade noch alleine stand, erklingt jetzt im Akkord. In all diesem Fließen wartete und wartete man auf eine schlagkräftige Eins; es gab sie – vier Stunden lang – nicht. Nur ganz selten setzt Feldman eine Zäsur: ein Signalmotiv der Röhrenglocken, ein tiefes Tremolo des Marimbafon.

Im Verlaufe des Nachmittags wurde das Stück zu mehr als einer bloß musikalischen, nämlich zu einer körperlichen Erfahrung. Man betrieb mehr ein „hear“ denn ein „listen“. Manche im Publikum – darunter Jünger, Neugierige, Ehrgeizige und Beflissene – meditierten, andere schliefen oder lasen. Aber alle wirkten am Ende irgendwie gereinigt.

Was auf Feldman folgte, war geistig mit ihm verwandt, ohne sich explizit auf ihn zu beziehen. Zu den überzeugendsten Momenten des Abends gehörte der kurze, wuchtige Auftritt von Toshimaru Nakamura. Der Japaner schloss die Ein- und Ausgänge eines Mischpults kurz und spielte mit den so entstehenden Rückkoppelungen. Natürlich hat Nakamura diese Technik nicht erfunden, aber er hat sie als eigene Kunstform verfeinert. Er habe es als Gitarrist seinerzeit nicht ertragen können, das Instrument schlagen zu müssen, damit es reagiere. Der Weg zum „No-Input-Mixing Board“ lag da nahe. Tatsächlich agierte Nakamura zurückhaltend und stoisch: ein Lautstärkeregler hier, eine Filtereinstellung dort. Den Rest erledigte das verstört rauschende Innenleben einer Maschine.

Die beiden letzten Auftritte konnten dieses Niveau leider nicht halten. Die amerikanisch-chinesische Kooperation FM3, die sich mit der Buddha-Machine, einem Low-tech-Loop-Player, unsterblich gemacht haben, verärgerten durch einen käsigen Drone, der mit peinlich pathetischen Posen ausgeschmückt wurde. Und auch das australische Trio The Necks vertraute, trotz interessanter Klangeffekte im präparierten Klavier, zu sehr auf den Eros eines schwellenden Drones, ohne dabei einen ästhetischen Mehrwert zu verbuchen. Der geplante Schlussakt mit Konono No. 1 hätte dem Abend sicher gut getan – aber die gerühmte Congotronics-Band um den 74-jährigen Kalimba-Virtuosen Mingiedi konnte als Folge der derzeit ausartenden Krisensituation im Kongo nicht ausreisen.

Der Konzerttag blieb also voller Widersprüche. Dem Haus der Kulturen der Welt ist nicht zugute zu halten, dass sie die jeweiligen Künstler überhaupt eingeladen hat – sie alle sind in der jüngeren Vergangenheit schon in Berlin zu hören gewesen. Aber: Dem HKW ist sehr wohl gutzuschreiben, dass sie die genannten Ensembles und Bands zusammen eingeladen hat. Das Verdienst von Kurator Nicholas Bussmann liegt in der konzentrierten Größe eines Programms, das offenbarte: Es gibt Musik, die sich jenseits allen Wollens und aller Diskurse behauptet.