Wer bestimmt, was gestern war?

Braunschweiger Schloss, Dresdner Frauenkirche, Berliner Stadtschloss: Der Denkmalschutz verliert die Deutungsmacht über die bauliche Vergangenheit. Denn immer häufiger werden neue Häuser nach alten Vorbildern gebaut. Eine Tagung im Dessauer Bauhaus widmete sich Fragen der Rekonstruktion

Wo originale Relikte fehlen, wird Altes neu gebaut, um das Bild einer vermeintlich heilen Welt von damals zu kreieren

VON RONALD BERG

Die Denkmalpfleger plagt ein Problem: Rekonstruktion heißt das Schreckenswort. Erst am letzten Donnerstag war es wieder so weit. In Braunschweig eröffnete ein besonders bizarres Beispiel nachgeahmter Historie: Das herzogliche Schloss, 1841 in klassizistischen Formen nach Plänen von Carl Theodor Ottmer fertiggestellt und im letzten Krieg zur Ruine geworden, war 1960 auf Beschluss der SPD-Mehrheit im Stadtrat abgerissen worden. Anstelle des Schlosses legte man einen Park an. Doch nun steht das Schloss wieder, oder vielmehr eine mit einigen Spolien versehene Replik der Fassade, hinter der sich eine Shopping-Mall verbirgt und ein paar Kultureinrichtungen der Stadt. 250.000 Besucher kamen bereits in den ersten zwei Tagen.

Das Braunschweiger Beispiel ist kein Einzelfall. Landauf, landab grassiert die Rekonstruktionswelle. Seit die Dresdner Frauenkirche wieder steht, gilt die Rekonstruktion vielen als Erfolgsmodell: den Bürgern, die sich eine Heilung des Stadtbildes ersehnen, den Politikern, die mit der touristischen Attraktion Besucher in die Stadt locken, und den Investoren, die mit historisierenden Fassaden Kommerz- und Wohnbauten besser vermarkten können. Selbst am symbolischen Mittelpunkt der Berliner Republik, im Zentrum der Bundeshauptstadt, wird die Rekonstruktion des Stadtschlosses der Hohenzollern immer wahrscheinlicher, wenngleich auch hier nur als Attrappe mit rekonstruierter barocker Fassade, hinter der eine moderne Konstruktion für museale und bibliothekarische Zwecke errichtet werden soll.

Die ganze Gesellschaft scheine die Rekonstruktion zu wollen, so die unbehagliche Krisenbeschreibung zu Beginn einer Tagung von Denkmalpflegern in Dessau am vergangenen Wochenende. Denn nach wie vor gilt für die professionelle Denkmalpflege der Grundsatz „Konservieren, nicht restaurieren“ – und schon gar nicht rekonstruieren. Um 1900 hatte der Kunsthistoriker Georg Dehio damit die wissenschaftliche Denkmalpflege gegen die gebauten Geschichtsfantasien des 19. Jahrhunderts à la Neuschwanstein in Stellung bringen wollen.

Auf der Dessauer Tagung stellte man nun verunsichert fest, dass man mit dem Festhalten an alten Glaubenssätzen ins gesellschaftliche Abseits zu geraten droht. Im Mittelpunkt der aus Denkmalämtern und Universitäten nach Dessau angereisten Tagungsteilnehmer stand daher die grundsätzliche Frage: Wie verhalten wir uns zur Rekonstruktion? Bislang hatte man sich unter Berufung auf die gesetzliche Aufgabe der Denkmalpflege des Bewahrens und Erhaltens der baulichen Zeugnisse der Geschichte für die Nachschöpfung historischer Bauwerke schlicht als nicht zuständig gefühlt. Angesichts immer neuer Rekonstruktionsvorhaben wächst der Druck nach einer grundsätzlichen Neubestimmung des Denkmalbegriffs.

Mit Bedacht hatten die Organisatoren – eine informelle Gruppe eher junger Denkmalpfleger – mit dem Dessauer Bauhausgebäude selbst ein Denkmal als Tagungsort ausgesucht. Anfang des Jahres wurde dessen Sanierung nach zehn Jahren abgeschlossen. Das Ergebnis nach denkmalgerechten Vorgaben besteht aus einem Patchwork aus sanierter originaler Substanz und neu ergänzten Teilen nach altem Vorbild. Kaum einer der Touristen wird allerdings die Collage aus alten und neuen Fenstern bei der gläsernen Vorhangfassade des Baues erkennen. Erst die demnächst eröffnende Ausstellung im Haus wird darüber belehren.

Warum also nicht gleich das alte Bild mit neuen Mitteln wiedererstehen lassen? Tatsächlich könnte das ein paar Meter weiter mit dem einstigen Wohnhaus von Bauhausdirektor Walter Gropius geschehen. Dazu müsste man allerdings erst ein 1956 errichtetes Gebäude abreißen. Gropius’ Original von 1926 war nämlich bis auf den Keller einer Sprengbombe zum Opfer gefallen. Die DDR-Überbauung mit fast identischem Grundriss auf dem verbliebenen Sockel würde aber ein authentisches Zeugnis zur Geschichte des Bauhauses eliminieren. Dabei könnte das unscheinbare Haus mit Satteldach davon erzählen, dass das äußerlich avantgardistisch wirkende Gebäude von Gropius im Innern konventionelle Raumaufteilungen besaß. Beim DDR-Nachfolgebau wurde der Grundriss übernommen. Mit „bürgerlichen“ Wohnformen sollte die „Intelligenz“ vor dem Mauerbau im Lande gehalten werden. Von sozialistischem Städtebau kann hier keine Rede sein. In der hybriden Form des jetzigen Gebäudes verschränken sich also mehrere Geschichten. Der Abriss des Gebäudes von 1956 und die Rekonstruktion des Vorgängerbaus von Gropius würde diese historischen Zusammenhänge auslöschen.

Die Gropius-Villa war Thema eines der Vorträge auf der Tagung und Beispiel für das Anliegen der Denkmalpflege, mit dem historischen Zeugnis Geschichte anschaulich zu erhalten. Ein Einzelfall sicher, aber auf die Einzelfälle kommt es an. Schließlich ist die Frage, wo und wie ein Denkmal an heutige Bedürfnisse und Nutzungen angepasst wird, das Alltagsgeschäft der Denkmalpflege. Doch der Zeitgeist in den Kommunen will mehr. Das Bedürfnis geht auf Rekonstruktion. Wo originale Relikte fehlen, wird Altes eben einfach neu gebaut, um das Bild einer vermeintlich schönen heilen Welt von damals zu kreieren. Authentizität scheint nicht so wichtig. Aber die originale Substanz ist nun mal der heilige Fetisch der Denkmalpflege.

Im Verlauf der Tagung schwanden die Argumente gegen Rekonstruktionen allerdings immer mehr. Nach den (neo-) strukturalistischen und postmodernen Entwicklungen in den Kulturwissenschaften der letzten Jahrzehnte ist die alte Idee der Authentizität theoretisch auch für die Denkmalpflege offenbar nur noch schwer zu halten. Der Titel der Tagung „Denkmale nach unserem Bild“ entpuppte sich daher bald als Beschreibung für das Beharren der Denkmalpflege auf einem Bild der Vergangenheit, das genauso willkürlich und zeitgebunden ist wie die Wunschbilder der Rekonstruktionsanhänger. Wolfgang Seidenspinner erklärte in seinem Referat, Authentizitäten gebe es nur noch im Plural. Was ein Denkmal sei und was historische Faktizität, wird schließlich subjektiv festgestellt und per Konvention innerhalb der Gesellschaft durchgesetzt.

An dieser Stelle schien es, dass es für die Denkmalpflege nur noch darum gehen könne, handwerkliche und ästhetische Qualität der Rekonstruktionen zu bewerten. Doch es gab Einwände. Mag unser Bild von Geschichte auch immer nur Interpretation sein, so gebe es auch falsche Deutungen. Das Stichwort „Auschwitzlüge“ hallte durch den Raum. Die Drohung mit der moralische Keule zeigte Wirkung. Geistige Werte wurden aufgeboten: Clemens Kieser konnte zeigen, dass trotz aller kulturellen Konstruktion der Denkmale dem überkommenen Fragment gegenüber der scheinbar heilen Rekonstruktion der Vorzug gegeben werden kann, und zwar mit dem schlagenden Argument der Freiheit. Nicht zu rekonstruieren und das fragmentarische Bild der historischen Verluste zu belassen könne einen geistigen wie sinnlichen Mehrwert erzeugen, weil es dem Betrachter die Möglichkeit einräume, das Fehlende in eigener Freiheit selbst zu ergänzen. Insofern, so Kieser, sei die Rekonstruktion obszön, weil sie alles zeige und damit das utopische Moment negiere, dass Offene des Fragmentarischen jeweils neu und individuell weiterzudenken.

Warum heute so viele Menschen sich dennoch nach dem geschlossenen und heilen Bild der Rekonstruktion sehnen, ist eine interessante Frage, der Sabine Coady-Schäbitz sich annahm. Leider blieb der Rekurs der Architektin auf die Triebtheorie von Sigmund Freud recht allgemein. Ihre methodisch zweifelhaften Analogieschlüsse zwischen Rekonstruktion und Wiederholungszwang, Todestrieb und der Unfähigkeit zur Sublimierung hätte jeder Psychoanalytiker als Scharlatanerie abtun müssen, die Denkmalpfleger hingegen zeigten sich amüsiert, zumal die Denkmalpflege natürlich auf Seiten des Lebenstriebs subsumiert wurde. Warum Menschen für Rekonstruktionen Partei ergreifen blieb aus psychologischer Sicht unbeantwortet. Andere Gründe für die Rekonstruktion, etwa kommerzielle, wurden auf der Tagung bestenfalls gestreift. So blieb die Frage offen, ob die Denkmalpflege bei den anstehenden Rekonstruktionen durch Einmischung wenigstens das Schlimmste verhindern sollte, wie es ein Denkmalpfleger im Publikum forderte.

Viele Machtmittel stehen der Denkmalpflege ohnehin nicht zur Verfügung. Als untergeordnete Behörde wird ihr bei Bedarf regelmäßig die Zuständigkeit entzogen, wenn politische Mandatsträger übergeordnete Interessen erkennen. Denkmalschutz schützt vor Abriss nicht. Die Denkmalpflege hätte größere Chancen, wenn sie Verbündete bei der Bevölkerung fände. Aber die Dessauer Tagung zeigte, dass die Vermittlung von Denkmalwerten dadurch behindert wird, dass diese Werte selbst zweifelhaft geworden sind.

Immerhin, so trösteten sich die Denkmalpfleger, sind Rekonstruktionen immer noch realer als die virtuellen Bilder der Medien. Vielleicht wird der derzeitige Rekonstruktivismus dereinst als Ausdruck jener Macht der Bilder betrachtet werden, der unsere Zeit prägt – und unter Denkmalschutz gestellt werden müssen. Im gleichen Moment, wo die Wirklichkeit ins Bild hinein verschwindet, scheinen die Rekonstruktionen diesen Verlust in eine zweite Natur verwandeln zu wollen, die in ihrer konkreten Fasslichkeit kompensatorisch wirkt.

Um die Idee der Denkmalpflege zu retten, brauchen ihre Vertreter aber nicht grundsätzlich ihren alten Idealen abzuschwören. Nur müssen sie ihre Denkmale als Alternative zur Rekonstruktion präsentieren, die in ihrer Andersartigkeit und Unvollkommenheit gerade ihre Qualität haben. Eben weil Denkmale über Geschichte zu denken geben, wo Rekonstruktionen meinen, über Geschichte verfügen zu können. Ein Hinweis während der Tagung machte das deutlich: Leo von Klenzes Walhalla, 1842 als Replik des Parthenon errichtet, wusste noch nichts von den schwellenden Umrissen des griechischen Vorbilds. Die rechtwinklige Rekonstruktion von Klenze wirkt daher irgendwie steif. Die Kenntnisse über das griechische Vorbild waren im 19. Jahrhundert also noch gar nicht ausgeschöpft. Sollten wir meinen, bei irgendeinem Denkmal der Vergangenheit wäre es heute anders?