Antisemitismus unter Juden?

Jüdische Kritik an Israel muss mehr sein, als wohlfeil universalistische Moral zu predigen. Denn Israel sieht sich als einziger Staat der Welt von einem atomaren Holocaust bedroht

Micha Brumlik lehrt Erziehungswissenschaften in Frankfurt a. M. und ist Mitherausgeber der „Blätter für deutsche und internationale Politik“ (www.blaetter.de). In deren April-Ausgabe ist eine längere Fassung seines Beitrags erschienen.

Der auf den ersten Blick unentwirrbare Konflikt, in den der jüdische Staat aufgrund der Bedrohung durch einige seiner Nachbarn, seiner grundsätzlich völkerrechtswidrigen, im einzelnen oft menschenrechtswidrigen Besatzungs- und Siedlungspolitik im Westjordanland sowie eines immer wieder aufflammenden palästinensischen Terrors geraten ist, führt auch in der jüdischen Diaspora zu gruppenbezogenen Feindschaften. Sie gipfeln neuerdings in Vorwürfen, jüdischer Antisemit zu sein.

Der Vorwurf gilt etwa Alfred Grosser, der als Kind in die französische Emigration getrieben wurde, über die von ihm stets betonte jüdische Herkunft hinaus in jüdischen Angelegenheiten eher unbewandert ist. Grosser bekundet, gerade der erlittenen Verfolgung wegen besondere Lehren gezogen zu haben: Etwa eine Solidarität mit deutschen Opfern des Zweiten Weltkrieges, „weil wir von keinem jungen Deutschen verlangen konnten, das Ausmaß von Hitlers Verbrechen zu verstehen, wenn wir nicht Verständnis zeigten für das Schicksal der Seinen“. Jude sein – das gipfelt für Grosser, der nach eigenem Bekenntnis ein echter, „sein Vaterland liebender Franzose“ geworden ist, darin, aus der Erfahrung eigener Verfolgung ein konsequent moralischer Universalist sein zu sollen. Dabei positioniert sich Grosser zu grundlegenden Fragen der israelischen Existenz, ohne zu berücksichtigen, dass er die Folgen seiner Vorschläge nicht zu tragen hat. So bringt er mehr oder minder deutlich das „Rückkehrrecht“ der Palästinenser ins Spiel, wohl wissend, dass die vollzogene Rückkehr das demografische Ende des jüdischen Staates wäre.

Der Fall des ebenfalls von jüdischen Organisationen wie dem American Jewish Committee (AJC) angegriffenen Tony Judt stellt sich anders dar. Judt, Direktor des Remarque Instituts an der New York University, ein glänzender Kenner der europäischen Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg, machte sich dadurch missliebig, dass er schon vor bald drei Jahren das Scheitern der Friedensbemühungen im Zeichen der Roadmap feststellte und angesichts der demografischen und siedlungsgeografischen Trends für das vermeintlich Undenkbare eintrat: für einen jüdisch-palästinensischen, binationalen Staat, wie er nicht wenigen linken Zionisten, etwa Martin Buber bis 1948, vorschwebte.

Diese Vorstellung ist, das dürfte auch Judt bewusst sein, nach bald einhundert Jahren Hass und Gewalt zwischen Juden und Palästinensern höchst unrealistisch. Und auch Judt dürfte wissen, dass realpolitisch gesehen – wenn überhaupt – mittelfristig an einer Zweistaatenlösung nichts vorbeiführt. Denn obwohl der Nationalstaat weltweit als politisches Organisationsmodell strukturell längst überholt ist, werden wir doch auch in gemäßigteren Zonen Zeugen der immer neuen Gründung von bei ihrem Entstehen schon veralteten Nationalstaaten: so bei der einvernehmlichen Scheidung zwischen Tschechien und der Slowakei, so sogar bei den immer wieder neu aufflammenden Debatten und Abstimmungen in Nordamerika um die mögliche Unabhängigkeit der Provinz Quebec. Tony Judts Vorschlag, der als Jugendlicher eine hebräische Schule besuchte, im Haus seiner Großeltern mit jiddischer Kultur erzogen wurde und nach der Schule ein Jahr in einem israelischen Kibbuz lebte, ist eher der Ausdruck politischer Verzweiflung vor dem Hintergrund einer lebenslang favorisierten linkszionistischen Utopie denn ein ernsthaftes politisches Programm.

Alfred Grosser und Tony Judt formulieren eine Kritik an Israel, die sich nicht um die Konsequenzen schert

Schließlich hat eine im Vereinigten Königreich gegründete Organisation, Independent Jewish Voices, eine in Tonfall und Inhalt höchst maßvolle Erklärung publiziert, die bisher etwa dreihundertfünfzig jüdische, meist akademische Persönlichkeiten unterschrieben haben, unter ihnen etwa der bekannte Historiker Eric Hobsbawm und der Dramatiker Harold Pinter – beides Persönlichkeiten, die sich übrigens – ähnlich wie Alfred Grosser – in ihrem bisherigen Leben nicht durch besondere Identifikation mit der jüdischen Gemeinschaft hervorgetan haben. Brisant ist in der britischen Erklärung allenfalls die Unterstellung, dass mögliche Kritik an israelischen Regierungen als antisemitisch gebrandmarkt wird.

Damit ist man am schmerzhaftesten Punkt einer Debatte unter Juden angelangt: dem Umstand, dass einige Juden andere Juden als „Antisemiten“ bezeichnen. Wer das tut, begeht jedenfalls keinen grundsätzlichen Fehler. Denn so, wie es frauenfeindliche Frauen oder schwulenfeindliche Homosexuelle gibt, kann es auch jüdische Antisemiten geben. Ob es sie gibt, ist eine empirische, keine grundsätzliche Frage. So dürfte es keine besondere Schwierigkeit bereiten, den ultraorthodoxen Wiener Rabbiner Moshe Aryeh Friedman, der an Ahmadinedschads Holocaustleugnungskonferenz teilgenommen hat, als jüdischen Antisemiten zu bezeichnen – obwohl er sich als Verkörperung eines wahren, radikal antizionistischen Judentums versteht, das den Staat Israel ablehnt, weil er Gottes messianischer Verheißung zuwiderlaufe.

Zuletzt ist auch eine „Berliner Erklärung“ von fünfundzwanzig Jüdinnen und Juden zu nennen, die lange vor der Etablierung einer neuen, etwas gemäßigteren palästinensischen Regierung verfasst wurde. Unter den Unterzeichnern finden sich Ernst Tugendthat, einer der bedeutendsten deutschsprachigen Philosophen, der stets engagierte, in Toronto und Berlin lehrende Soziologe Prof. Michal Bodemann und der bekannte Bildungsforscher Wolfgang Edelstein. Sie beklagen, dass das aus Scham und Trauer geborene deutsche Schweigen gegenüber Israel weiteres Unrecht ermögliche.

Das „Hauptproblem“ dieser Erklärung findet sich in Forderung an die Bundesregierung, „kurzfristig den Boykott der Palästinensischen Autonomiebehörde zu beenden“. Die Erklärung übergeht die Gründe für den von EU und internationaler Gemeinschaft verhängten Boykott: die erklärte Weigerung der Hamas, die von ihren Vorgängerregierungen geschlossenen Verträge zu erfüllen. Sie unterschlägt auch das nach wie vor gültige politische Programm der Hamas, das sehr viel radikaler als die Programme anderer, auch und gerade islamistischer Parteien ausdrücklich antisemitisch-eliminatorisch ausgerichtet ist. Angesichts dessen kann man den UnterzeichnerInnen der Berliner Erklärung allenfalls zugute halten, sich nicht genügend informiert zu haben. Sonst müsste man ihnen eben doch vorhalten, den Antisemitismus der Hamas zumindest billigend in Kauf zu nehmen.

Wer den Boykott der Hamas kritisiert, nimmt zumindest deren Antisemitismus billigend in Kauf

Die Gereiztheit der „innerjüdischen“ Debatte dürfte sich vor allem daraus erklären, dass der Staat Israel durch die Entwicklung des iranischen Atomprogramms, begleitet von den Eliminationsdrohungen nicht nur Präsident Ahmadinedschads, derzeit der einzige Staat auf der Welt ist, der von einem atomaren Holocaust bedroht ist. Das mindestens wahrzunehmen fordert jede nüchterne politische Betrachtung, die mehr will, als wohlfeil und frei von allen Folgen universalistische Moral zu predigen. MICHA BRUMLIK