: Sehnsucht, Endstation
RÜCKKEHR Ryszard Kwiecien träumt von einem Job in Deutschland – und erwacht in der Altpapiertonne. Um nach Polen zurückzugehen, ist er lange zu stolz. Bis er nach sieben Jahren einen Streetworker trifft
■ Der Zustrom: Nach der Öffnung der Grenzen der Europäischen Union im Mai 2004 ist die Zahl der Einwanderer aus Polen um ein Drittel gestiegen. Laut Statistischem Bundesamt kamen 2006 etwa 150.000 Polen nach Deutschland. 2009 waren es noch 112.000.
■ Die Jobs: Ende 2010 hielten sich 419.000 Menschen mit polnischer Staatsangehörigkeit in Deutschland auf. Nur ein Viertel von ihnen war sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Die meisten jobbten in der Landwirtschaft, im Büro oder in Reinigungsberufen. Sie durften nur eingeschränkt arbeiten. Am 1. Mai ändert sich das.
VON EMILIA SMECHOWSKI (TEXT) UND MIGUEL FERRAZ (FOTOS)
An dem Tag, an dem Ryszard Kwiecien seinen großen Traum endgültig gegen eine vorsichtige Hoffnung eintauscht, zittern seine Hände. Seit fast 22 Stunden hat er nichts mehr getrunken.
Besoffene nimmt der Busfahrer nicht mit, haben sie ihm gesagt. Das wollte er nicht riskieren. Nicht heute. Nicht jetzt, wo er sich entschlossen hat, aufzugeben, aufzubrechen, zurückzugehen – nach Polen. Er will zu seiner Mutter. Er will dieses verdammte Deutschland hinter sich lassen.
Etwas verloren steht er da an diesem Montagabend im März, zwischen all den Menschen im Neonlicht des Hamburger Busbahnhofs. Ein Mann, den sieben Jahre in Deutschland gezeichnet haben. Er raucht, seine rechte Hand wackelt, als er die Asche auf den Boden stippt. Die andere steckt er immer wieder in seine zu große Sportjacke. Er verschlingt den Rauch, die Augen geschlossen.
Seine Hände sind rot und rau, seine Finger aufgequollen, Schwielen ziehen sich über die Knöchel. In den sieben Jahren in Deutschland haben diese Hände in Farbeimer gegriffen und Wandfarbe umgerührt. Sie haben leere Flaschen aus Mülltonen gefischt und Zeitungen verkauft. Sie haben Papiercontainer aufgeklappt, damit Kwiecien in ihnen schlafen konnte. Und sie haben unzählige Flaschen geöffnet. Bier und Wodka.
Er spricht kein Deutsch
Irgendwann wurden sie ganz blau und wären fast erfroren. Man kann seine Geschichte in diesen Händen lesen.
Kwiecien ist 39 Jahre alt. Sein Herz hat im vergangenen Winter zwei Infarkte überlebt, sein Gesicht ist aufgedunsen, sein rechtes Auge eingedrückt. Über seinen Schädel ziehen sich drei Narben, er ist schmächtig, 1,60 Meter groß, die Klamotten schlackern um den Körper.
Kwiecien sagt: „Ich bin eine Einladung, kräftig zuzuschlagen.“ Er spricht Polnisch, kein Deutsch. In diesen sieben Jahren in Deutschland hat er viele Schläge abbekommen: Jetzt versucht Ryszard Kwiecien wieder aufzustehen.
Es ist ein Sonntag im Mai 2004, als Kwiecien in seiner Heimatstadt Namyslow in den Zug steigt und ihn in Hamburg wieder verlässt. In Polen war er ein arbeitsloser Tischler, das soll sich jetzt ändern. Er will in Deutschland das, was viele Polen wollen: raus aus der Armut. Ich werde so viel Geld verdienen, dass ich dir jeden Monat was überweisen kann, hatte er seiner Mutter zum Abschied gesagt. Am 1. Januar 2004 ist Polen der EU beigetreten. Die Grenzen sind offen. Plötzlich scheint alles möglich – auch für Ryszard Kwiecien.
Deutschland kennt er schon, jedes Jahr im September war er mit seinen Kumpels nach Sachsen gefahren, als Saisonarbeiter. Vier Wochen Äpfel pflücken bei Dresden. Jonagold, Gala, Golden Delicious. Dann kehrte er mit ein paar hundert Mark nach Polen zurück, Jahr für Jahr. Jetzt würde er bleiben. Im Mai 2004 ist Kwiecien voller Hoffnung.
Zu Hause hat ihn nichts mehr gehalten. Erst starb sein Vater an Krebs. Kwiecien bekam einfach keine Arbeit. Und dann geschah die Sache mit seiner Freundin. Vielleicht war das der Grund, weshalb er abgehauen ist.
Ella hieß sie, und schön war sie. Dass sie sich in ihn verliebt hatte, war ihm von Anfang an nicht geheuer. Eines Abends, sie waren schon zusammen, kam er bei ein paar Bieren in der Kneipe mit einem Fremden ins Gespräch. Job, Familie, Frauen. „Wie sieht sie denn aus, deine Freundin?“, hat Kwiecien den anderen gefragt. „Blond, klein und zierlich.“ „Ach was, meine Freundin ist auch blond und klein, und zierlich ist sie auch.“ Sie verabredeten sich zu viert in einem Tanzlokal, Kwiecien kam mit Ella, der andere allein. Und Ella wurde blass, als sie begriff, dass sich gerade ihre beiden Partner kennengelernt hatten.
Er vertraut heute keiner mehr, sagt er. Er will einen Hund, einen Yorkshire Terrier.
An diesem Märzabend am Busbahnhof in Hamburg drückt Kwiecien seine Zigarette aus in einem der großen metallenen Aschenbecher, die er nur aus Deutschland kennt. Er steigt in den Reisebus mit Klimaanlage, Fernseher und Kaffeebar. Es ist nicht voll, er hat zwei Sitze für sich allein.
Dreizehn Stunden wird seine Reise in die Vergangenheit dauern, 839 Kilometer bis nach Namyslow, der Stadt in Niederschlesien, wo er geboren wurde.
Um Punkt 20.35 Uhr rollt der Bus an. Kwiecien presst sein müdes Gesicht an die Scheibe. Er denkt an seine Mutter. Er hat ihr kein einziges Mal Geld geschickt.
Der Start fühlt sich gut an, im Mai 2004. Zusammen mit anderen Polen soll Ryszard Kwiecien Wohnungen renovieren, schöne Altbauten, in Hamburg und Berlin. Schwarzarbeit, er macht den Job trotzdem. Vielleicht ist das schon sein erster Fehler.
Vierundzwanzig Wohnungen tapezieren und streichen sie, sie schleifen die Dielenböden ab. Nachts legen sie sich zwischen die Farbeimer. Bloß nicht auffallen, ihr arbeitet illegal, hatte man ihnen gesagt. Diese Wohnungen sind sein erstes Zuhause, und sie sind doch keines. Immerhin hat er da noch ein Dach über dem Kopf. Nach sechs Monaten hat er nicht einmal mehr das.
Es ist nicht ganz einfach herauszufinden, wie es dazu gekommen ist. Kwiecien hat vieles vergessen. Auch diesen Moment, in dem er dann endgültig auf der Straße landet. Er erinnert sich nur schemenhaft, die Vergangenheit liegt hinter ihm wie Morgennebel, kalt und dicht.
„Der Alkohol hat meine Erinnerung weggespült“, sagt er. In der Zeit trinkt er fünf Dosen Bier am Tag und zwei Tetrapak Wein, je 69 Cent, von Lidl. Wenn das nicht reicht, kippt er vorm Schlafengehen eine halbe Flasche Wodka nach.
Es ist, als hätte jemand auf den Pause-Knopf gedrückt. Es geht weder vor noch zurück. Sein Leben hängt.
Hartz IV steht ihm nicht zu
An Jobs kommt Kwiecien nicht mehr. Er verdient sich mit Flaschensammeln und dem Verkauf von Straßenzeitungen ein paar Euro, gerade genug, um den Frust zu betäuben. Mit Alkohol im Blut spürt der Körper nichts mehr, keine Kälte, keinen Hunger, keine Traurigkeit. Nach eisig kalten Nächten wachen manche nicht wieder auf. Diesen Winter sind in Deutschland vier Menschen erfroren, zwei davon in Hamburg.
Die Deutschen können einen wie mich einfach nicht gebrauchen, denkt Kwiecien. Hier muss man studiert haben, eine Fachkraft sein, um Erfolg zu haben.
Mit der Osterweiterung der EU hatte man in Deutschland Angst, die Polen würden den Arbeitsmarkt stürmen. Deshalb hatte die Politik eine Übergangsregelung getroffen: Sieben Jahre lang würden Polen eingeschränkte Arbeitnehmerrechte haben. Sie können einen Gewerbeschein beantragen und sich selbstständig machen. Oder ein paar Monate im Jahr als Saisonarbeiter jobben, Spargel stechen, Erbeeren und Kirschen pflücken. Mehr nicht. Eine richtige Arbeitserlaubnis hätte Kwiecien nur bekommen, wenn eine Prüfung ergeben hätte, dass eine Stelle von keinem Deutschen besetzt werden kann. Und wer in der Theorie für keine Arbeitsstelle zur Verfügung steht, darf in der Praxis auch kein Hartz IV beantragen.
Wieder einer dieser Schläge. Manche nimmt Kwiecien gar nicht bewusst wahr. Politik hat ihn nie interessiert.
Für die Versorgung ausländischer Obdachloser ist nicht Deutschland, sondern ihr Herkunftsland zuständig. Etwa 350 Polen leben in Hamburg auf der Straße. Soziale Leistungen stehen ihnen nicht zu. In den Notunterkünften hat Kwiecien es gar nicht erst versucht. Sie sind rar und schnell belegt.
Ab dem 1. Mai 2011 dürfen sich erstmals auch Polen uneingeschränkt um Jobs bewerben. Kwiecien wird da schon zu Hause bei seiner Mutter wohnen.
Es könnte sein, dass die geöffneten Arbeitsgrenzen mehr Leute anziehen wie Ryszard Kwiecien, dass einige ähnlich scheitern, dass die Zahl der Obdachlosen steigt. Vielleicht kommen aber auch mehr Ingenieure, Programmierer, Köche, die von Anfang an bessere Chancen haben.
Meistens geht Kwiecien in Hamburg gleich morgens in eine Tagesaufenthaltsstätte, wäscht und rasiert sich. Manchmal gibt es was Sauberes zum Anziehen. Zweimal am Tag darf er dort warm essen und warten, bis es dunkel wird.
Im vergangenen Winter hat die Stadt dann doch 200 Notunterkünfte zusätzlich zur Verfügung gestellt, unter anderem im Bunker am Hauptbahnhof. Da findet Kwiecien immer wieder einen Platz. „Mit den ganzen Polen in der Stadt wird man ja zum Nazi“, sagen die Deutschen im Bunker. Die meinen das nicht so, glaubt Kwiecien. Trotzdem schläft er danach lieber draußen, in einer Mülltonne in einem Hinterhof der Reeperbahn.
Er schmeißt seinen Schlafsack in diese Tonne mit Altpapier und springt hinterher. Die Pappe hält die Kälte von unten etwas ab. Einmal schläft er zu lang. Eine Frau öffnet morgens die Klappe, wirft alte Zeitungen hinein und erschrickt. Sie sieht Kwiecien dort liegen, unter einem Haufen Altpapier. Er muss für sie aussehen wie eine Leiche.
Es muss sich zu dieser Zeit auch für ihn angefühlt haben, als sei sein Leben irgendwie vorbei.
Der Reisebus rollt durch die Nacht. Er rollt durch Berlin und über die Grenze. Die Autobahn endet, Polen beginnt. Holprig geht es auf Landstraßen weiter. Alle zwei Stunden hält der Bus an einer Raststätte. Pause. Die ersten Male geht Kwiecien eine rauchen. Immer wieder versucht er die Augen zu schließen, zu schlafen, er schafft es nicht. Dann, im Morgengrauen, ziehen die ersten schlesischen Felder vorbei.
„Ich habe es nicht geschafft in Deutschland, ich bin ein Versager“, sagt Ryszard Kwiecien.
Zurückkehren, sich Schwächen eingestehen, Hilfe annehmen – das sind keine Optionen für einen polnischen Mann. Zusammenreißen, Familie ernähren, nicht über Gefühle sprechen. Wer als Mann doch Probleme hat, tut besser so, als wären sie nicht da. Vielleicht ist Kwiecien deshalb so lange durch diesen Nebel gewankt.
Seiner Mutter erzählt er nichts. „Sie hatte schon zwei Herzinfarkte, einen dritten würde sie nicht überleben“, sagt er. Wenn er schon aufgibt, soll das sein Geheimnis bleiben.
Seine Geschwister, die Schwester und der Bruder, sind beide in Namyslow geblieben. In Polen gibt es immer welche, die gehen, und welche, die bleiben. Oft verstehen sie einander nicht. Hier ist deine Familie, was willst du in Deutschland, haben seine Geschwister gefragt. Und er antwortete: Wollt ihr nicht mehr vom Leben, als an der Armutsgrenze dahinzuvegetieren?
2009 sind 112.000 Polen nach Deutschland ausgewandert – und fast genauso viele, 111.000, kamen im selben Jahr zurück.
Seine Geschwister haben in den sieben Jahren ein geregeltes Leben aufgebaut, Familie, Kinder. Sie waren schon immer bescheidener als er. „Sie haben jetzt alles“, sagt er. „Und ich nichts.“
Was er hat, ist ein bisschen neue Hoffnung. Es ist eine Hoffnung, die er Stanislaw Szczerba verdankt.
Szczerba ist Streetworker, der einzige polnische in Hamburg. In einer Obdachlosenunterkunft hatten Ordensschwestern auf Kwiecien gezeigt und ihm gesagt, dem musst du helfen, der macht es nicht mehr lang. Szczerba gab ihm seine Nummer und ging wieder.
Es sei wichtig, bei den polnischen Obdachlosen keinen Druck aufzubauen, stellt Szczerba fest. Anfangs ist er einfach da, hört zu. Irgendwann sagt er: Du kannst immer nach Polen zurück, du musst nicht bleiben.
Man könnte es Glück oder Zufall nennen, dass Kwiecien ihn im November hier getroffen hat. Szczerba war gerade aus London nach Hamburg gekommen. Da die meisten Polen nach Großbritannien auswandern, hatte die polnische Stiftung Barka ihn zuerst dorthin geschickt. „Wenn du erst einmal obdachlos und dem Alkohol verfallen bist, dann schaffst du es fast nie aus eigener Kraft“, sagt er. „Das ist dann wie ein Sog, der dich nach unten zieht.“ Er kennt das.
Szczerbas Eltern waren beide Alkoholiker, er landete in einem Breslauer Kinderheim, später, als Erwachsener, auf der Straße. Fünf Jahre lang hat er neben Mülltonnen geschlafen. Dass er den Willen hatte, sich Hilfe zu holen, darüber staunt er noch heute. Er ging in eine Unterkunft der Barka-Stiftung, die sich damals, 1989, gerade gegründet hatte, um polnische Obdachlose im In- und Ausland zu unterstützen. Nach einer Alkoholtherapie wollte er etwas zurückgeben und selbst helfen. Er fing als Streetworker an und begann Leute wie Kwiecien aufzusammeln. Seit er in Hamburg ist, hat er 45 Polen in den Bus nach Hause gesetzt.
Er lotst sie aus dieser Sackgasse, in einem Land, dessen Sprache sie nicht kennen und dessen Sozialsystem sie ignoriert. Er hilft ihnen, Stolz und Scham zu überwinden.
In diesen Wintermonaten lässt Szczerba Kwiecien Zeit, er drängt nicht. Er erlebt, wie Kwiecien zweimal ins Krankenhaus eingeliefert wird. Herzinfarkt. Seine Finger und Zehen sind erfroren, er hat Ekzeme, die er sich blutig kratzt.
Im März sagt er: Ich fahre
Kwiecien ist nicht krankenversichert. Aber die Ärzte sind verpflichtet, Leben zu retten. Mit seinen Erfrierungen liegt er ein paar Tage im Krankenhaus. Dann muss er wieder raus. Die Behandlungen zahlt die Stadt. So werden Menschen wie Kwiecien plötzlich zum Politikum.
„Wir können in Hamburg nicht die Probleme Europas lösen“, hat der Sozialsenator von der CDU gesagt. Jetzt sitzen seine Kollegen von der SPD im Hamburger Senat. Sie haben beschlossen, die Barka-Stiftung zu fördern. Ein Jahr lang ist Szczerbas Arbeit gesichert.
Ryszard Kwiecien entscheidet sich irgendwann sehr schnell. An einem Freitag im März sagt er: „Ich fahre.“ Es scheint, als hätte sich der Nebel für einen Moment gelichtet. Vielleicht sieht er die Vergangenheit kurz klarer. Vielleicht erscheint ihm Namyslow, seine Mutter, wie eine Zukunft.
Am Montag darauf holt er seine Sachen. Zahnbürste, Deo und Seife, die in einer weißen Plastiktüte in einem Hinterhof der Reeperbahn lagern. Abends setzt er sich in den Bus.
9.30 Uhr. Ein ergrautes Ortsschild: Namyslow. Der Bus hält auf einem asphaltierten Platz am Bahnhof. Kwiecien springt raus. Es ist frisch, er zieht seine Jacke zu und wirft sich die Tasche über die Schulter. Er lächelt, es scheint, als hätte er sich die Fahrt über entspannt. Obwohl er nicht schlafen konnte.
Jetzt läuft er durch die fast leeren Straßen, er wippt ein bisschen beim Gehen. Es riecht nach Kohleöfen und Abgasen, ein altes Kraftwerk bläst Rauch in die Luft. 16.000 Menschen wohnen hier, zwischen Rathaus, gotischen Kirchen und der Stadtmauer.
Das letzte Mal war er vor einem Jahr zu Besuch, er hatte Zeitungen verkauft und sich so das Busticket zusammengespart. Kwiecien war still damals – und wurde nichts gefragt. Nur einmal wollte seine Mutter wissen, wie es in Hamburg läuft. Gut, hat er da gesagt, viel zu tun. Wahrscheinlich wird sie nie erfahren, was in den sieben Jahren gewesen ist. Kurz vor der Abfahrt hat er sie angerufen, das hat er sonst nie getan. Er hat gesagt, dass er nach Hause kommt, ob sie ihm „golabki“ kochen könne. Die „Täubchen“, weiße Kohlrouladen mit Reis und Hack, sein Lieblingsessen. „Mach ich“, hat seine Mutter gesagt. Dann hat sie ihm ihre neue Adresse gegeben. Die alte, große Wohnung ist verkauft und gegen eine kleine für sie allein eingetauscht. Die Ersparnis, knapp 40.000 Zloty, 10.000 Euro, hat sie zur Bank gebracht – auf Kwieciens Konto.
Als er sich in den Bus setzte, wollte er einfach nur nach Hause. Jetzt ist er fast da, und zaghaft macht er neue Pläne. Es ist sein zweiter Neuanfang. Er fragt sich, ob er das erste Mal vielleicht zu hoch gepokert hat. Ob es nicht besser sei, das Blatt zu akzeptieren, das auf der Hand liegt. Sein Blatt zeigt jetzt Namyslow.
Er wird sich eine dicke Bockwurst machen mit viel Meerrettich und Weißbrot. Die ersten Nächte wird er bei seiner Mutter in der Einzimmerwohnung schlafen – auf dem Teppich. Er wird diese Wohnung erst einmal nicht verlassen. Kalter Entzug. Freunde treffen, auf das Wiedersehen anstoßen, das geht jetzt nicht. Er sagt nicht, dass er nie wieder trinken wird. Aber er will es versuchen.
Die Mutter fragt nichts
Kwiecien will wieder eine Krankenversicherung abschließen. Er will sich einen Job suchen, vielleicht im nahen Breslau. Für die Fußball-EM nächstes Jahr werden doch die Stadien ausgebaut. Und, ja, von dem Geld seiner Mutter will er sich eine kleine Wohnung kaufen, irgendwo am Rande der Stadt.
Dass seine Mutter, die von einer mageren Rente lebt, ihre einzige Ersparnis ihrem Jüngsten schenkt, das zu erzählen ist Kwiecien fast peinlich. Er ist doch weggegangen, weil er es selbst schaffen wollte. Und jetzt soll er vom Geld seiner Mutter leben? Kwiecien schüttelt den Kopf. Aber ihm bleibt keine Wahl.
Um 10 Uhr ist er da. Kwiecien steht vor einer rosa Mietskaserne. Er drückt auf die Klingel, zweimal. Es surrt, er geht rein, er läuft die Treppen hoch.
Eine Frau in Rock und BH steht in der Tür, die Falten im Gesicht leicht überschminkt, ein Handtuch vor der Brust, Lockenwickler im rot gefärbten Haar. Sie lächelt, sie umarmen sich, Mutter und Sohn, kurz, aber beherzt. Dann dreht sie sich um, und schaut wieder in den Spiegel im Flur. „Ich muss mich beeilen, ich habe gleich einen Arzttermin“, sagt sie, ihre Stimme klingt hoch und etwas schrill.
„Weißt du, was für einen Stress ich hatte mit der Renovierung? Jesus Maria, überall mussten Rohre verlegt werden, im Bad, in der Küche. Schau hier oben, überm Klo. Und dann diese Kosten, meine liebe Mutter Gottes. 7.000 Zloty hat mich das Ganze gekostet. Du glaubst gar nicht, was für einen Stress ich hatte.“
Sie fragt nicht: Wie geht es dir? Sie fragt nicht: Wie war die Reise? Und auch nicht: Wie ist es dir ergangen in Deutschland?
Er schaut sie an, ganz kurz nur, und lächelt zaghaft. Dann nimmt Ryszard Kwiecien seine Tasche und geht rein.
■ Emilia Smechowski, 27, stammt aus Wejherowo bei Danzig und ist taz-Volontärin in Hamburg
■ Miguel Ferraz, 35, hat portugiesische Eltern und ist freier Fotograf