Politisches Versagen

betr.: „Wir sind Murat Kurnaz“

Navid Kermani hat in seinem Artikel zwar nicht explizit den Rücktritt von Steinmeier gefordert, wie das der Titel auf Seite 1 suggeriert, aber die logische Konsequenz aus dieser Affäre wäre es. Es ist die Leistung des Autors, dass er nicht nur das Versagen der beteiligten Politiker und Behörden auf der rechtsstaatlichen Ebene herausgearbeitet hat, sondern auch die rassistische Komponente, die diesen Fall begleitet.

Was wir derzeit erleben, ist der Versuch, mit immer abstruseren Argumentationen den Kopf von Steinmeier zu retten. Allen voran nun Otto Schily, der sich am 29. März im „Heute-Journal“ vor laufender Kamera geoutet hat und gegenüber der braven Marietta Slomka, die es wagte, kritische Fragen zu stellen, fast ausfällig geworden wäre. Gerade unter migrations- und integrationspolitischen Gesichtspunkten ist der Umgang mit Kurnaz ein Offenbarungseid.

Es passt zu den nun beschlossenen Verschärfungen des Zuwanderungsgesetzes. Kurnaz ist in Deutschland geboren und hat hier gelebt. In einem Staat mit einem moderneren Migrationsregime und Einbürgerungsrecht wäre er schon längst Staatsbürger gewesen bzw. könnte nicht wie ein Ausländer behandelt werden.

Zynisch ist nicht nur, dass die Behörden die Möglichkeit sahen, das Problem auf die Türkei abzuwälzen und die Abschiebekarte zu ziehen, sondern auch, dass sie so getan haben, als wäre der deutsche Staat nicht dafür zuständig bzw. in der Lage, sich mit rechtsstaatlichen Mitteln um Kurnaz zu „kümmern“, sollten die Verdachtsmomente tatsächlich zutreffen.

Streng juristisch wäre tatsächlich die Türkei zuständig gewesen. Der entscheidende Punkt ist aber, dass hier ein politisches Versagen vorliegt. Denn nach Lage der Dinge hätte Kurnaz, wie Kermani feststellt, auch ein deutscher Pass nicht vor der weiteren Internierung in Guantánamo geschützt. Wenn man Leute wie Kurnaz daran hindern will, in die islamistische Richtung abzudriften, muss man sich politisch souveräner verhalten. ANDREAS LINDER, Tübingen