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Archiv-Artikel

Feiern und Fordern

1. MAI Linke demonstrieren in Mitte und Prenzlauer Berg gegen Mietsteigerungen, Punks feiern wild in Friedrichshain, der DGB will mehr Geld, und auf dem Myfest in Kreuzberg drängen sich die Massen. Fünf Porträts von Menschen, die dabei waren

Ein Lächeln von den Alten

Raoul Welsch geht am Samstag gegen Gentrifizierung auf die Straße – und gegen die Räumung des Schokoladens, wo er arbeitet.

Er sei ja Optimist, sagt Raoul Welsch. Man dürfe die Hoffnung nie aufgeben, dass die Politik nicht doch irgendwann gegen Aufwertung und Verdrängung aktiv wird. „Dass wir Demos wie diese nicht mehr brauchen.“ Jetzt aber müsse man auf die Straße gehen. „Denn die Stadt wird gerade an die Wand gefahren.“

„Wir bleiben alle“ steht auf dem pinkfarbenen Frontbanner der Demo, die sich am Samstagnachmittag vom Rosenthaler Platz in Bewegung setzt und den 1.-Mai-Reigen eröffnet. Gegen steigende Mieten, gegen die Verdrängung von Armen und Alternativräumen – das, was gerade unter Gentrifizierung firmiert.

Welsch hat sich am Ende eingereiht, hinter die Schwarzgekleideten, dort wo Fahrräder und Kinderwägen mitrollen. „Viva Schokoladen“ steht auf dem Transparent, das der 41-Jährige mit dem Karohemd und der Umhängetasche trägt. Seit zwölf Jahren arbeitet Welsch in dem Alternativkultur-Haus, kümmert sich um die Konzertbetreuung.

Momentan arbeitet er im Ausnahmezustand. Der Schokoladen steht kurz vor der Räumung, Mietverträge sind gekündigt. „Ich bin ja Optimist“, wiederholt Welsch. Man dürfe nie die Hoffnung aufgeben, dass nicht doch die Politik den Schokoladen noch rettet. Schließlich sollten doch auch die Mächtigen ein Interesse an den Nischen dieser Stadt haben. Weil die die Stadt attraktiv machten. Weil sie auch ohne großes Geld funktionierten. Und weil sie wie der Schokoladen „die ganze Welt in den Kiez“ holen.

Vorne grüßt ein Redner den Kiez, durch den die Demo zieht: „Lasst uns Prenzlauer Berg eine Mahnung sein, wohin Gentrifizierung führt.“ Aus den Cafés blicken Latte- und Weißwein-Trinker leicht verängstigt.

Welsch entdeckt auch drei Rentner, die vom Balkon den Demo-Tross beäugen. „Wir kämpfen auch für euch“, ruft er. Das Trio lächelt. „Na, immerhin.“

KONRAD LITSCHKO

Dem Druck standhalten

Birgit Westermann und Lennart Schwarz sind Mitorganisatoren der Antikapitalistischen Walpurgisnacht in Friedrichshain.

Birgit Westermann hat viel zu sagen. Dass sie die Walpurgisnacht schon seit 2005 mitorganisiert. Dass die sich gegen Gentrifizierung richte – was in den Anfangsjahren Yuppiesierung und Umstrukturierung genannt wurde. Gegen die Vertreibung der angestammten Bewohner, durch diese ganze Eigentumswohnungskäufer, die den Multikulti-Touch hier hip fänden und zugleich kaputt machten. Das gebe es so ähnlich auch in Charlottenburg, wo sie seit 30 Jahren wohnt. Ihre alte WG dort sei an dem Druck kaputtgegangen, den ein neuer Hauseigentümer – „so ein schnösliger Typ“ – erzeugt habe, erzählt die 54-Jährige.

Sie dürfte eine der wenigen echten Proletarier in der Szene sein. „Ich war mal Fabrikarbeiterin in Moabit“, sagt sie. „Und stellvertretende Betriebsrätin“. Später machte sie eine Umschulung, heute ist sie arbeitslos. In der Szene ist sie seit 30 Jahren aktiv. War erst „klassische Autonome“, dann bei der Berliner Anti-Nato-Gruppe. Auch die revolutionäre 1.-Mai-Demo habe sie mal mitorganisiert. Ihr heutiges Verhältnis zu der Demo ist … nun ja, sie will nicht, dass das in der Zeitung steht. „Lennart“, sagt sie, „sag doch auch mal was!“

Lennart Schwarz überragt seine Mitstreiterin fast um zwei Köpfe. „Alle Menschen sind Ausländer. Fast überall“ steht auf seinem politisch einwandfreien Kapuzenshirt. „Wir wollen hier ein Kulturevent für Menschen schaffen, die sich einen Konzertbesuch sonst nicht leisten können“, erklärt der 20-jährige Schlacks. Also so was Ähnliches wie das MyFest in Kreuzberg? „Da würde ich nicht für 1.000 Euro hingehen“, protestiert Westermann. „Das ist nur ein Sauf- und Grillfest, null politisch“, ergänzt Schwarz. Hier am Wismarplatz würde zwar auch viel getrunken, gibt er zu. „Aber wir verdienen nichts daran.“ Und Förderung vom Staat gebe es auch nicht. „Wir wollen nicht von irgendwelchen Senatsfuzzis abhängig sein“, betont Westermann.

Bleibt die leidige Frage nach der Gewalt im Anschluss an ihre Feste. Beide suchen lange nach einer passenden Formulierung. „Things happen“, sagt Westermann. Und Schwarz fügt hinzu: „Wir können halt nicht alle an die Kette legen.“ GEREON ASMUTH

Musik, vor der die Gewalt weicht

Die französische Band’a Joe kommt am Samstag zufällig nach Friedrichshain und sorgt für einen Stimmungsumschwung.

„Mais non“, sagt der Tuba-Spieler. Von der speziellen Walpurgisnacht hier hätten sie wirklich nichts gewusst. Er ist mit der zwölfköpfigen Blechblascombo La Band’a Joe gerade auf Europatournee. Friedrichshain sei wegen der vielen Bars ein guter Ort für ein Konzert, habe man ihnen gesagt. Als sie auf der Boxhagener Straße die vielen Leute sahen, haben sie losgelegt.

Bunte Klamotten, Posaunen, Saxofon, Trommeln und reichlich Energie sorgen für einen Stimmungsumschwung. Eben hatte alles noch auf die übliche Randale nach der Antikapitalistischen Walpurgisnacht gewartet: Die Feier ein paar Meter weiter war – kurz nach 22 Uhr – gerade zu Ende gegangen. Nun erklingt „The Lion sleeps tonight“, und die Menge jubelt. „Dance, dance, dance!“, ruft der Bandleader ins Megafon. Die Masse folgt.

Hundert Meter weiter rangeln noch ein paar Festbesucher mit der Polizei, am Ende siegt die Musik – 45 Minuten lang. Nach „Don’t stop me now“ packt die Band die Instrumente wieder ein. „Wir müssen weiter“, erklärt der Tubaspieler. Als nächstes steht ein Konzert in Budapest an.

Die Umstehenden rufen nach Zugaben. Vergeblich. Auch die anrückende Polizei hat keine Blasinstrumente. Es folgt das übliche Katz-und-Mausspiel. Feuerchen, Flaschenwürfe, Festnahmen. Ohne Musik. GEREON ASMUTH

Ein Stück mehr Gerechtigkeit

Astrid Schmudde ist überall aktiv: bei den Grünen, in der Uni – und am Sonntagmorgen bei der Gewerkschaft

Sie wollte schon immer nach Berlin, erzählt sie. Schon lange habe sie von der Stadt geträumt, von der Vielfalt, den unterschiedlichen Kulturen. Aber auch von den Freiheiten, dem anderen Leben in einer Großstadt.

Dann passte auf einmal alles zusammen: Die Kinder von Astrid Schmudde waren aus dem Gröbsten raus, sie startete ein spätes Studium in Göttingen, doch als dort Studiengebühren eingeführt wurden, die sie sich nicht leisten konnte, fasste sie den Entschluss: auf nach Berlin!

Am Sonntag läuft die Frau Mitte 50 zwischen mehreren tausend Teilnehmern auf der Demonstration des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) mit. Sie trägt eine dunkle Sonnenbrille gegen die Helligkeit und ist inmitten wehender Ver.di-Fahnen selbst nur mit einer roten Nelke und einem kleinen grünen Ampelmännchen am schwarzen Blazer geschmückt. Schmudde hält sich im vorderen Teil des Aufmarschs: ein Stück vor dem Berliner Fanfarenzug, der sich zwischendurch an sambaähnlichen Klängen versucht, und dem nächsten Lautsprecherwagen, aus den politische Reden klingen.

„Ich möchte die Gesellschaft ein Stück gerechter machen“, sagt sie, daher sei ihr die Demonstration am 1. Mai auch wichtig. Und beim Demonstrieren will sie es nicht belassen: Neben ihrem Studium der Sozial- und Politikwissenschaften an der Humboldt-Universität ist Schmudde in der Arbeitsgemeinschaft „Studierende in Ver.di“ und bei den Grünen aktiv. Sie will sich gegen Studiengebühren einsetzen, für einen Mindestlohn, gegen Armut. „Davon gibt es viel zu viel in Berlin“, sagt sie und erzählt von den Bettlern, die im Winter an der Warschauer Straße frieren.

Sie selbst hat früher als Krankenschwester gearbeitet. Alleinerziehend, mit drei Kindern, große Sprünge waren da nicht drin. „Ich wollte auch mal was für mich machen“, sagt sie nun über ihr Studium.

Für den Nachmittag steht noch das Myfest in Kreuzberg auf ihrem Programm. Einen Stand hat sie dort nicht, helfen will sie trotzdem. Irgendwo, sagt Schmudde, werde man immer gebraucht. SVENJA BERGT

Klaren Kopf behalten

Franz Schulz ist grüner Bezirksbürgermeister von Friedrichshain-Kreuzberg und sozusagen dienstlich vor Ort.

Wie oft er den 1. Mai in Kreuzberg erlebt hat, kann Franz Schulz nicht mehr zählen. Aber es sei sein neuntes Mal als Bürgermeister. Am frühen Nachmittag sitzt er – graues Sakko, dunkelblaues Hemd – am Grünen-Stand auf dem Mariannenplatz. Die Sonne scheint, es ist nicht heiß. „Perfektes Wetter zum Fahrradfahren“, sagt Schulz. Leider sei ihm sein altes Hollandrad vor zwei Wochen vor dem Rathaus geklaut worden. Aber auf der Partymeile ist es ohnehin zu voll, das Myfest ist groß wie nie.

Der 1. Mai sei für ihn ein Stück Geschichte, erzählt Schulz. In den 80ern sei er selbst bei der Demo mitgelaufen, seinen kleinen Sohn auf den Schultern. Der ist heute erwachsen, und Schulz nähert sich dem Ruhestand. Im Herbst tritt er ein letztes Mal an.

Um 16.30 Uhr trinkt Schulz ein Bier. Es werde sein einziges bleiben, betont er. An so einem Tag sei man gut beraten, einen klaren Kopf zu behalten, auch wegen der vielen Fragen, mit denen er bestürmt werde. Ob er eine Wohnung wisse, fragt ihn ein Festbesucher. „Nein“, sagt Schulz, „ich kenne nur Zettel mit Gesuchen.“ Kreuzberg sei begehrt wie nie, das führe auch zu einer bedenklichen Mietenexplosion.

Zu mehr als ein paar Schlucken kommt er nicht. Um 16.45 Uhr setzt sich eine schwarz gekleidete Menge in Bewegung: die lange angekündigte Spontandemo. „Da ist sie ja“, ruft Schulz und stürmt los. Eine Viertelstunde später kommt er zurück: „Alles friedlich.“ Er habe die Demonstranten eingeladen, mit ihm über die Mietenentwicklung zu diskutieren, „aber sie wollten nicht“.

Nach den Toten bei der Duisburger Loveparade habe man das Sicherheitskonzept verfeinert, erzählt Schulz. Mehr Securityleute seien eingesetzt, um die Menschen notfalls in Fluchtgassen umleiten zu können. „Toi, toi, toi!“, habe es beim 1. Mai in Kreuzberg noch nie eine Massenpanik gegeben. „Hoffen wir, dass es so bleibt.“ PLUTONIA PLARRE