: „Man kann Schmerz nicht objektiv messen“
Chronische Schmerzen sind bleibende Schmerzen, sagt Therapeutin Ingrid Blendinger. Man könne sie meist nur auf ein erträgliches Maß reduzieren. Menschen mit Gewalterfahrungen seien anfälliger für chronischen Schmerz
INGRID BLENDINGER ist Anästhesistin. 1974 lernt sie in den USA Schmerzambulanzen kennen. Es folgt eine Ausbildung zur Schmerztherapeutin. Seit 1983 ist sie als solche in Berlin niedergelassen. 1987 gründet sie den Berliner Landesverband der Deutschen Schmerzhilfe.
taz: Frau Blendinger, was ist Schmerz?
Ingrid Blendinger: Es ist ein körperliches und seelisches Leiden. Im Deutschen unterscheiden wir sprachlich zwischen Schmerz und Leid, aber von den Nervenverknüpfungen her ist diese Trennung nicht richtig. Da ist mit jedem körperlichen Schmerz auch ein seelischer Schmerz verbunden.
Selbst wenn man sich in den Finger schneidet?
Da mag der seelische Schmerz nur kurz sein. Bei chronischen Schmerzen ist die seelische Beeinträchtigung jedoch groß. Obwohl auch das nicht immer stimmt. Wenn man von seinem Ehemann geschlagen wird, mag der akute Schmerz gering sein, der seelische aber groß.
Ist Schmerz subjektiv?
Ja. Immer. Man kann Schmerz nicht objektiv messen. Wir Therapeuten arbeiten mit visuellen Analogskalen, um herauszufinden, unter welchen Bedingungen Schmerz stärker oder schwächer wird. Wenn Patienten sagen, es ist besser geworden, wissen wir ja nicht, um wie viel es besser geworden ist.
Was halten Sie von der These, dass der Körper Schmerz erlernen kann?
Sie sprechen hier das Schmerzgedächtnis an. Aber diese Bezeichnung ist für manche irreführend. Das Wort Gedächtnis suggeriert, dass man etwas bewusst macht. Das Schmerzgedächtnis indes funktioniert sehr unbewusst. Wir wissen das durch die Trauma- und Holocaustforschung. Das Gehirn verändert sich unter dem Einfluss von Stress.
Um die Situation besser aushalten zu können?
Vielleicht. Von Kindern, die lange Gewalterfahrungen ausgesetzt waren, wissen wir, dass sie sich unempfindlich machen können gegen Schmerz. Warum das so ist, ist schwer zu sagen. Die Forschung dazu ist noch jung. Die Veränderungen im Gehirn durch körperliche und seelische Traumen, das ist, was man Schmerzgedächtnis nennt.
Warum spielt das bei Patienten mit chronischen Schmerzen eine Rolle?
Bei Menschen, die traumatische Erfahrungen gemacht haben, passiert es sehr viel leichter, dass es später zu einer Chronifizierung von Schmerzen kommt. Oft kann man das bei Menschen feststellen, die im Krieg als Kinder schwere Bombardierungen erlebt haben. Erst Jahre später entwickeln sie durch einen – mitunter vergleichsweise harmlosen – Unfall oder Ähnliches chronische Schmerzen.
Wie leben Menschen mit chronischen Schmerzen?
Unterschiedlich. Es gibt welche, die lernen, damit umzugehen, und bleiben auch berufstätig. Andere beeinträchtigt der Schmerz so sehr, dass sie ihre Berufstätigkeit aufgeben müssen.
Welche Bewältigungsstrategien für chronische Schmerzen gibt es?
Ganz bekannt ist die Ablenkungsstrategie. Patienten, die sich intensiv mit etwas beschäftigen, vergessen manchmal den Schmerz. Progressive Muskelentspannung nach Jacobson ist eine andere Therapieform. Die Patienten müssen auch lernen, auf das, worauf der Schmerz hinweist, zu reagieren. All das können sie aber erst machen, wenn der Hauptschmerz mit Medikamenten gelindert ist.
Medikamentierung ist also wichtig?
Natürlich. Die meisten müssen die Medikamente dauerhaft einnehmen. Man kann nicht erreichen, dass der Schmerz ganz und gar weggeht. Aber man kann erreichen, dass er das Leben nicht mehr bestimmt.
Wie ist die Versorgung von Schmerzpatienten in Berlin?
Sie könnte besser sein. Es ist so, dass die Schmerztherapie nicht mehr gut bezahlt ist. Deshalb machen das viele Ärzte nicht mehr, obwohl sie die Ausbildung dazu haben.
INTERVIEW: WALTRAUD SCHWAB