berliner szenen Stilbildend

Sport ist Mord

Ich habe Sina lange nicht gesehen. Aber heute kommt sie. Ich freue mich schon, denn Sina ist so erfrischend. Bei ihrem letzten Besuch trug sie Socken, deren Zehen einzeln gestrickt waren, wie bei Fingerhandschuhen. Und in zwei Zehen hatte sie Löcher. Ihr Pullover ging weit über den Hintern und war fast durchgesessen. Im Haar trug sie eine Wäscheklammer, um die Strähnen zur Seite zu halten.

Heute steht sie nicht vor der Haustür, sondern kommt durch den Garten. Dann kratzt sie an der Terrassentür. Ich lasse sie rein und erschrecke. Sina ist völlig abgemagert. „Was ist mit dir los?“, frage ich und gehe an den Kühlschrank, um Essen für sie rauszuholen. Mach ich eben das Erste-Hilfe-Kommando. „Du kannst auch noch was mitnehmen, Brot und Wurst, so viel du willst.“

Aber es liegt gar nicht am fehlenden Geld und Essen, dass Sina so dünn ist. Sie sagt, sie spielt jetzt Unterwasserrugby. Unterwasserrugby, sage ich. Haha, guter Witz. Diese Sportart gibt es wirklich, sagt Sina. Der Ball ist mit Salzwasser gefüllt, damit er absinkt. Jeweils sechs Spieler sind für jede Mannschaft im Wasser. Sie tragen Flossen und Schnorchel, Kappen und Taucherbrille und ringen tatsächlich unter Wasser um den Ball. Mir bleibt schon in Gedanken daran die Luft weg.

Sina sagt, es sei ein Unding, dass ich nie davon gehört hätte. Sie tut so, als wäre Unterwasserrugby die bekannteste Sportart von ganz Berlin. Ich sollte doch ganz bald mal mitkommen und mir das Ganze ansehen. Ihre Mannschaft könnte ich auch noch anfeuern. „Ja, aber wenn ihr immer unter Wasser seid, sehe ich doch gar nichts!“ „Aber wir tauchen doch manchmal auf“, meint Sina. „Um Luft zu holen.“

ANNETTE SCHWARZ