: Die Achse der Simulation
Ob Weltraumflug oder inszenierter Häuserkampf im Irak, in Orlando arbeiten Unterhaltungs- und Rüstungsindustrie eng zusammen. Eine Reise durch Floridas Freizeitparks und virtuelle Spielplätze
VON TILL BARTELS
Ich befinde mich im freien Fall. Ohne Fallschirm, nur mit Sturzhelm und im Overall verpackt schwebe ich in Bauchlage. Unter mir ein Gitterrost, aus dem Wind mit einer Geschwindigkeit von 180 Kilometern pro Stunde bläst. Ohne aus einem Flugzeug abgesprungen zu sein, übe ich den Sturzflug. Zuvor hatte ich im Einführungskurs die Zeichensprache der Fallschirmspringer erlernt und auf einem Massagetisch liegend die Steuerung mit Ellenbogen und Beinstellung geübt. Gleich nach der Trockenübung wird es in der oberen Etage des SkyVenture-Turms ernst. Ich betrete eine gläserne Druckkammer und springe in die tosenden Luftmassen des senkrechten Riesenföhns. Neben mir fliegt der Sprunglehrer, korrigiert meine Haltungen und Verrenkungen. Im Gegensatz zu mir genießt er das windige Vergnügen mit beneidenswerter Leichtigkeit. Im 90-Sekunden-Takt wechseln die Sprungteams sich ab. Die kurze Zeitspanne entspricht einem Fall aus 6.000 Metern über Grund. Nach drei Durchgängen bin ich gerädert. In der Umkleidekabine treffe auf Profis, die in der Luft Purzelbäume schlugen und Pirouetten drehten. Wenn sie den Helm abnehmen, verrät der Kurzhaarschnitt: Meist sind es Soldaten.
„Wir zahlen hier 500 Dollar die Stunde, das kostet nur ein Bruchteil vom Einsatz eines richtigen Flugzeugs“, sagt Sergeant Jack. Seine Einheit trainiert regelmäßig an einem der vier vertikalen Windtunnel der Firma SkyVentures, die in den USA existieren. Einer davon steht in Orlando, nur wenige Kilometer von Walt Disney World entfernt.
Die über hundert verschiedenen Vergnügungsparks, die Universitäten und das Militär arbeiten in der Mitte Floridas eng zusammen. Schon lange bevor das Mickymaus-Imperium Orlando für seine Aktivitäten entdeckte, wurden in dem sonnigen Ort Waffen produziert. Gerade bei dem Thema virtuelles Abenteuer herrscht ein reger Austausch von Ideen, Personal und Technologie. Militär- und Unterhaltungsindustrie inszenieren künstliche Welten, in denen sich die rekonstruierte und projizierte Wirklichkeit mischen. Dadurch sparen die einen bei der Ausbildung von Soldaten enorme Kosten, die anderen verdienen an dem Freizeitspaß.
In den letzten zwei Jahrzehnten entstand zwischen Walt Disney World im Westen Orlandos und Cape Canaveral am Meer ein Korridor mit über 130 Hightech-Firmen. „Es ist kaum bekannt, dass Orlando momentan die Hauptstadt der militärischen Simulation ist“, sagt Joe Swinski, Gründer und Chef der Firma DiStI, die seit 1994 computergestützte 3D-Simulatoren entwickelt. Die benachbarte University of Central Florida mit ihrem Institute for Simulation and Training versorgt kleine Software-Schmieden und große Technologiekonzerne mit jungen Nachwuchskräften.
45 Autominuten östlich der Stadt heben Astronauten mit den letzten verbliebenen Space-Shuttle-Exemplaren zur Internationalen Raumstation ISS ab. Das riesige Nasa-Areal am Atlantik besteht aus Sumpfgelände und ist die Heimat für 68.000 Alligatoren. Die Halbinsel der Gemeinde Cape Canaveral ist eine Mischung aus Wildreservat und Weltraumbahnhof. Im Zentrum der amphibischen Natur ragt das 160 Meter hohe Vehicle Assembly Building in den Himmel, der Geburtsort der Saturn- und Space-Shuttle-Raketen. Eine bei den Apollo-Missionen nicht zum Einsatz gekommene Saturn-V-Rakete liegt in einem klimatisierten Hangar. Auf Stahlstützen ruht waagrecht der größte Phallus der Nation von 110 Meter Länge. Für Besucher, die per Bustour das Space Center besichtigen, wird im benachbarten Firing Room Theater der Start eindrucksvoll simuliert. Dann wackeln im 20-Minuten-Rhythmus die Großbildleinwände und beschwören die glücklichen Zeiten, als die Amerikaner den Mond besuchten.
Bisher betraten nur zwölf Menschen den Erdtrabanten. Aber im neuesten Film des Imax-Kinos wandelt Schauspieler Tom Hanks mit jedem über den Mond. Die Zuschauer müssen nur eine 3D-Brille aufsetzen und es sich in den Sesseln des Imax-Kinos bequem machen. Der Film „Walking on the Moon 3D“ verwebt historisches Bildmaterial mit per Computer erzeugten Sequenzen.
Teilnehmer beim „Astronaut Training Experience“ (ATX). Innerhalb eines Tages absolvieren Kleingruppen einen Schnellkurs für eine fiktive Weltraummission. Dazu gehören Gehversuche auf dem Mond, indem man an einem Bungeeseil hängend im Zeitlupentempo mühselig über Matten hüpft. Oder sich an einer Kletterwand per Seil mit Gegengewichten der Schwerelosigkeit aussetzt. Da der Platz in der Space-Shuttle-Attrappe pro Tag begrenzt ist, müssen die ATX-Kurse lange im Voraus reserviert werden. Das Programm für Aktive hat den Preis eines Flugtickets: 225 Dollar pro Person.
Preiswerter ist das Mittagessen mit Weltraumveteranen. Für 22,99 Dollar Aufschlag zum Eintritt dürfen Hungrige an weiß-rot karierten Tischdecken Platz nehmen. Der fensterlose Restaurantbunker serviert keine Sterneküche, sondern ein schlichtes Lunch-Büfett mit authentischen Weltraumgeschichten pensionierter Astronauten. Zwischen den Gängen erzählt heute William R. Pogue von seinen 2.000 Stunden im Orbit.
Bei Disney ist auch der Flug zum Mars längst Realität. „Mission Space“ gilt als die aufregendste Attraktion des Themenparks Epcot. „Da ist mehr Hightech drin als in einem echten Shuttle“, kommentiert Geoffrey Pointon von Disney. Nach dem Anstehen in der Warteschlange werde ich als Teil einer Vierergruppen für den Weltraumflug instruiert. Denn bei Mission Space bekommt jeder Teilnehmer seine Aufgaben zugeteilt: als Kommandant, Pilot, Navigator oder Flugingenieur. „This is intense“, die Warntafeln und Ansagen der Attraktion sind eindrücklich: Begleiterscheinungen wie Übelkeit und Schwindelgefühl gehören zu den Nebenwirkungen.
Die Tür zu einem Hightech-Kleiderschrank öffnet sich, und ich nehme Platz. Ein Sicherheitsgurt ist nicht nötig, denn der gepolsterte Metallbügel presst mich fest in die Sitzschalen im Inneren der engen Kapsel Richtung Mars. Die Crew ist umgeben von Schaltern und Bildschirmen. In Griffweite des Steuerknüppels sind Spucktüten platziert. „Go for launch“, lautet das Kommando. Wir vier Marspiloten werden in eine horizontale Lage gekippt. Jeder hat eine eigene Kabinenluke über sich und blickt in die Vertikale, in den Himmel zur Raketenspitze. Die Dramaturgie ist perfekt: Fünf – vier – drei – zwei – eins, die Versorgungsleitungen der Startrampe schwenken zur Seite. Es zischt, die Raumfähre vibriert, das Licht flackert orangefarben. „Zero. We have lift off.“ Das Fegefeuer der Triebwerke setzt ein. Befehle tönen aus dem Sprechfunkverkehr. „Kommandant, zünden Sie jetzt die zweite Stufe!“ Doch ich werde von der Schubkraft so stark in den Sitz gepresst, dass das Drücken eines blinkenden Knopfes zum Kraftakt wird. Durch die enormen Fliehkräfte sind meine Arme gelähmt und schwer.
Im Display ist aus dem Himmelblau ein schwarzes Weltall geworden. Sterne funkeln auf der imaginären Frontscheibe. Nach dem ohrenbetäubenden Lärm folgen Stille und Leere. Den Mond lassen wir zum Greifen nahe rechts liegen. Durch Meteoritenschwärme und heftige Erschütterungen steuert uns der Navigator Richtung Mars. Wir kreisen in der Umlaufbahn und suchen einen Landeplatz auf dem rot schimmernden Planeten. Wir werden förmlich angezogen, überqueren Wüsten, durchfliegen Schluchten und knallen hart auf. Das war’s auch schon, denn bei Mission Space ist nicht der Mars das Ziel, sondern der Weg. Die Tür öffnet sich.
Als ich wieder Boden unter mir habe, gehe ich nicht mehr normal, sondern schwanke wie ein Betrunkener. Was einer Entfernung von über 200 Millionen Kilometern oder drei Jahren Flug entspricht, dauert in der Simulation nur vier Minuten, die Startphase mit den gewaltigen G-Kräften keine zehn Sekunden. Der Trick bei der Zeitreise ist die falsch wahrgenommene Bewegung, denn die Kapseln rotieren in einer riesigen Zentrifuge. Wie realistisch der Marsflugsimulator ist, zeigen Zwischenfälle. Nicht nur die echte Weltraumfahrt, sondern auch das Vergnügen forderte bereits Opfer. Im Juni 2005 fiel ein vierjähriger Junge nach einer Fahrt ins Koma und verstarb. Ostern 2006 brach eine deutsche Urlauberin zusammen und konnte nicht wiederbelebt werden. Deshalb hat Disney Konsequenzen gezogen und lässt Besuchern die Wahl zwischen dem „Orange Team“ und einer abgeschwächten Variante des Raumfluges im „Green Team“.
„Simulation ist nicht einfach ein Flugsimulator, sondern Interaktion in der Gruppe“, erklärt Mark Yerkes. Der Absolvent des US Naval War College arbeitet am Institute for Simulation and Training, das zur University of Central Florida gehört. Die Wissenschaftler und 46.000 Studenten setzen auf eine enge Zusammenarbeit mit der Industrie. Auf dem Campus führt mich Eileen Smith, Direktorin für experimentelles Lernen, zu einem Gebäude am Progress Drive, das innen einem Filmstudio gleicht. In einer Ecke steht eine laubfroschgrün angepinselte Kücheneinrichtung, nur Toaster, Mikrowelle und Kaffeemaschine sind nicht mit Farbe übertüncht. Wie beim Eyetoy der Spielkonsole Playstation bekomme ich eine VR-Brille übergestülpt und taste mich mit der Hand in einer Datenmanschette durch projizierte „mixed realities“, versuche einen Kaffeebecher zu greifen. Das Experiment zeigt, dass der digitale Küchenplaner eines schwedischen Einrichtungshauses noch in den Kinderschuhen steckt. Mithilfe dieses dreidimensionalen Versuchsaufbaus sollen Unfallopfer bei der Rehabilitation wieder einfachste Abläufe im Alltag erlernen.
Aber später merke ich, dass diese Musterküche nur wie die Teflonpfanne ein Abfallprodukt der Luft- und Raumfahrt ist. Denn ein Haus weiter wird aus dem zivilen Terrain ein nachgestelltes Schlachtfeld. Es geht durch Räume mit Modelllandschaften, die wie abstruse Kinderzimmer wirken. Statt der Spielzeugeisenbahn sehe ich nur Panzerfahrzeuge und Plastiksoldaten, ausnahmslos Kampfszenen aus Städten mit arabischer Architektur. In den abgedunkelten Hallen bei Lockheed Martin, dem größten Rüstungskonzern der Welt, zieht das virtuelle Spiel in den Krieg. Jetzt geht die Reise nach Tikrit im Irak. Aus dem digitalen Entertainment wird blutiger Ernst.
Aus den Boxen tuckert der Motor des Hummer Vehicle im Leerlauf. Auf die Panorama-Leinwand vor dem Militärfahrzeug ist eine irakische Straßenszene projiziert. Der Armeekonvoi setzt sich zur Patrouillenfahrt in Bewegung, biegt um einen Wohnblock und gerät in den Hinterhalt. Der Fahrer gibt Gas, aus der Dachluke feuert ein MG-Schütze. Zur Verstärkung wird ein Apache Attack Helicopter angefordert.
Zwei Räume weiter hockt eine studentische Hilfskraft im Hubschrauber-Simulator. Denn wer hier trainiert, spielt meistens vernetzt. Sein Horizont besteht aus zwei Großbildschirmen, die Tikrit im Tiefflug zeigen. Plötzlich kommt ein F16-Kampfjet angeschossen und greift mit Luft-Boden-Raketen in die Kampfhandlung ein.
Bei virtuellen Manövern wie diesem können bis zu 300 Standorte mit im Spiel sein, über den ganzen nordamerikanischen Kontinent verteilt. Die voneinander abhängigen dynamischen Systeme schaffen Situationen, in denen plötzlich großer Entscheidungsbedarf besteht. Unter Stress soll schnelles und richtiges Reagieren trainiert werden. Dabei helfen virtuelle Rekonstruktionen von akribischer Genauigkeit: von wild gestikulierenden Turbanträgern am Wegesrand bis zu den nächtelang geränderten Palästen von Saddam Hussein. „Wir sind besser als Google Earth“, sagt stolz ein Ausbilder und zoomt mit der Maus auf das Cover eines Zeitschriftentitels, das in einem Kiosk ausliegt.
Eine halbe Stunde später ist die Simulation durchgespielt und der Feind besiegt. „It’s fun“, lautet der letzte Satz nach der Darbietung. Bis zu 14.000 Soldaten werden jedes Jahr am „Virtual Convoy Combat Trainer“ ausgebildet, bevor sie in den Irak fliegen und im echten Hummer Vehicle sitzen.
Auf den Betrachter wirkt es, als ob die großen Herausforderungen an der Front über das Pentagon an die Technologiekonzerne durchgereicht werden. Ob in dieser virtuellen Höhle des Löwen oder im Universitätslabor, die Probleme des Pentagons werden in Aufträge parzelliert und abgearbeitet. Mit kleinen Lösungen ist viel Geld zu verdienen. Die Etats und Forschungsaufträge wachsen seit Jahren. Warren Wright, Pressesprecher von Lockheed Martin, fasst das Firmencredo bei der Verabschiedung in einem Nebensatz zusammen. „Give us a soldier, you get a war fighter.“ Das Faszinierende an Simulationen ist, dass die Mitspieler glauben, nicht nur die Parallelwelt im Griff zu haben, sondern auch die Realität kontrollieren zu können.