Die Opfer waren auch Helden

Es ist für mich nicht leicht, über die RAF-Thematik zu sprechen. Sie bleibt belastend, auch wenn alles lange zurückliegt. Die Folgen des Geschehens im Jahr 1977 sind für die Angehörigen natürlich unterschiedlich schwer zu tragen. Ich bin in meinem Beruf sehr eingespannt, sodass ich nicht behaupten kann, beständig schwer unter den Folgen der Ermordung meines Vaters zu leiden. Das gilt so für viele andere Angehörige nicht. So spürt etwa meine Mutter, die seit 30 Jahren allein lebt, die enorme Einschränkung und Verschlechterung ihrer Lebensumstände jeden Tag, und sie wird diese Situation lebenslänglich ertragen müssen. Die knapp drei Jahre, in denen mein Vater Generalbundesanwalt war, waren sehr belastend. Er arbeitete regelmäßig weit über 12 Stunden pro Tag und tat dies trotz der permanenten höchsten Gefährdung mit bewundernswerter Gelassenheit. Wie schwer seine dienstliche Pflicht angesichts der Überlast der Aufgaben, vor denen die Bundesanwaltschaft stand, war, wurde uns erst nach seinem Tod klar. Die Angeklagten im Stuttgarter Baader-Meinhof-Prozess – und dies war nur eine von sehr vielen Staatsschutz- und Revisions-Strafsachen der Behörde – hatten mehr Verteidiger, als mein Vater Beamte auf Planstellen verfügbar hatte. Ihm standen insgesamt etwa 25 Oberstaatsanwälte und Bundesanwälte zur Seite. Allein Andreas Baader hatte bei Eröffnung des Stammheim-Verfahrens 21 Verteidiger, davon sieben Pflichtverteidiger.

Einem Freund schrieb mein Vater sechs Wochen vor seiner Ermordung: „Natürlich bin ich nach wie vor um eine positive berufliche Bilanz bemüht. Dies wird allerdings von Monat zu Monat schwerer, und der Zeitpunkt, an dem ich mit dem Rücken zur Wand stehen werde, ist abzusehen. Da unsere Prozesse nicht Tage und Wochen, sondern Monate, meist mehrere Jahre dauern, werden wir Mitte 1977 nur noch wissenschaftliche Hilfsarbeiter in Karlsruhe haben, die dann die laufenden Geschäfte bewältigen müssen.“

Unmittelbar nach dem Tod meines Vaters und seiner beiden Begleiter, Georg Wurster und Wolfgang Göbel, gab es den schlimmen, die Familie schwer verletzenden Mescalero-Nachruf, in dem die klammheimliche Freude über den „Abschuss von Buback“ geäußert wird, von den „Killervisagen wie die Bubacks“ gesprochen wird und davon, dass mein Vater nun nicht mehr in das „Verbrecheralbum der meistgesuchten und meistgehassten Vertreter der alten Welt“ aufgenommen werden kann, die nach der Revolution zu öffentlichen Vernehmungen vorgeführt werden sollen. Der Autor des Artikels hat sich mir mehr als 20 Jahre später offenbart und geschrieben, dass ihm die auf meinen Vater gemünzten Worte jetzt leidtun. Ich habe ihm auch geantwortet. Damit ist sein Beitrag für mich abgeschlossen.

Als Vorbemerkung zur augenblicklichen Diskussion: Es ist klar und richtig, dass die Angehörigen kein Mitsprache- und kein Mitentscheidungsrecht bei der vorzeitigen Haftentlassung von RAF-Terroristen haben. Die Beschlüsse hierüber müssen nach den geltenden Regeln durch die zuständigen Stellen erfolgen. Ich werde die Entscheidungen selbstverständlich akzeptieren. Die Diskussion der vergangenen Wochen hat allerdings auch gezeigt, dass es ein weitverbreitetes Unbehagen in Verbindung mit frühzeitigen Haftentlassungen von RAF-Tätern gibt. Dieses Ereignis sollte uns somit veranlassen, darüber nachzudenken, ob die bestehenden Regelungen optimal sind oder ob sie für zukünftige Fälle modifiziert werden sollten.

Hierzu einige Anmerkungen:

1. Der Ansatz, dass auch zu lebenslanger Haft Verurteilte die Chance haben, wieder in Freiheit zu gelangen, ist human und im Grundsatz zu begrüßen. Er hat dazu geführt, dass es inzwischen zwei verschiedene lebenslange Strafen gibt, eine einfache lebenslängliche Strafe, die 15 Jahre währt, und eine „besonders lebenslange“, die etwa im Falle von Christian Klar auf 26 Jahre festgelegt wurde, aber eben auch nicht lebenslänglich sein wird. Insofern erstaunt es den Laien, weshalb Gerichte überhaupt Strafen wie „lebenslänglich“ oder, wie es merkwürdigerweise geschehen ist, von „fünfmal lebenslänglich“ aussprechen, wenn es sich andererseits immer stärker zu positivem Recht entwickelt, dass die Mindestverbüßungszeit die tatsächliche Haftdauer ist.

Es scheint nicht hinreichend klar, ob ein Inhaftierter nach Ablauf der Mindestverbüßungsdauer freigelassen werden kann oder werden muss. Der zweite Fall entspricht wohl der zunehmend praktizierten Regelung, und man wundert sich, was im Fall Mohnhaupt der Senat in Stuttgart noch zu entscheiden hatte und ob das bei dieser Sachlage irritierende Wort „Mindestverbüßungsdauer“ überhaupt noch gebraucht werden sollte. Es verblüfft, dass lediglich der Inhaftierte selbst seine Freilassung verhindern kann, indem er erklärt, er meine, noch nicht ausreichend gesühnt zu haben. Das sieht die geltende Regelung vor.

2. Eine Haft von 24 Jahren oder, wie im Falle von Herrn Klar, von 26 Jahren ist natürlich sehr lang, aber es muss bedacht und gesagt werden, dass diese Dauer nicht Ausdruck der Gnadenlosigkeit des Staates oder gar der Unversöhnlichkeit der Angehörigen ist, sondern dass sie allein aus der besonderen Schwere der Taten resultiert. Durch das immer stärker gewichtete Argument der Resozialisierung der Täter und aufgrund des Wunsches, ihnen eine Perspektive in Freiheit zu geben, werden notwendigerweise die Haftdauern begrenzt. Dies hat zur Folge, dass bei Mehrfachmördern die Strafe pro Getöteten immer geringer wird und dass eventuell ein einzelner Mord gar keinen Beitrag mehr zur Haftdauer bewirkt. Hierdurch ergibt sich eine problematische Situation. Wir achten das Leben jedes Menschen zu Recht sehr hoch. Eine Folge hieraus ist, dass wir keine Todesstrafe haben. Dies muss konsequenterweise aber auch bedeuten, dass wir eine angemessene Strafe oder Strafandrohung für diejenigen bereithalten, die das nicht so sehen und anderen das Leben nehmen. Im Falle meines Vaters war es eine klare Hinrichtung, die auf Geheiß der in Stammheim einsitzenden Baader-Meinhof-Häftlinge erfolgte. Deren Anweisung in einem aus der Haftanstalt geschmuggelten Kassiber umfasste nur vier Wörter. „Der General muss weg.“

3. Solange Mörder ihre Taten als 25-Jährige begehen, kann man auch unter Berücksichtigung des Aspekts, ihnen ein Leben in Freiheit nach der Haft zu ermöglichen, eine bedeutende Strafe verhängen. Was passiert aber, wenn ein 65-Jähriger mordet? Nehmen wir an, die Taten am 11. September in New York seien von einem alten Mann erdacht, genau geplant und gelenkt worden. Wie viele Jahre kann er überhaupt in Haft gehalten werden, wenn man vorwiegend oder ausschließlich darauf achtet, dass er eine Perspektive haben muss, wieder in Freiheit zu gelangen?

4. Es wird auch angeführt, dass Täter eine „zweite Chance“ erhalten müssten. Hierzu ist bei den Terroristen, über die jetzt gesprochen wird, zu bedenken, dass sie nach ihren Morden, die sie ja nicht in einer einzigen Aktion verübt haben, die Chance, zumindest in ihren Verbrechen nicht fortzufahren, nicht genutzt haben. Nach der Ermordung meines Vaters und seiner Begleiter gab es eine einmütige Verurteilung dieses Verbrechens. Wenn Frau Mohnhaupt und Herr Klar an dieser Tat entscheidend beteiligt waren, was man ja leider nicht mit letzter Sicherheit weiß, haben sie aus den Reaktionen der Öffentlichkeit nicht den Schluss gezogen, einen schweren Fehler gemacht zu haben, sondern sie planten die besonders hinterhältige Ermordung von Jürgen Ponto, bei der sie die persönliche Beziehung einer jungen Frau zur Familie Ponto nutzten. Die wiederum einhellige Verurteilung dieser Tat haben die Terroristen erneut nicht als Chance ergriffen, von diesem schrecklichen Tun abzulassen. Sie haben dann sogar die technisch sehr anspruchsvolle und angesichts der nun wesentlich realistischeren Gefährdungsanalyse aufseiten der Sicherheitsbehörden riskantere Entführung Hans-Martin Schleyers geplant und durchgeführt.

5. Wir müssen fragen, ob es richtig ist, dass Täter frühzeitig freigelassen werden, ohne dass sie sich zur Tat bekennen, ihren Tatbeitrag einräumen und sich von ihren Verbrechen distanzieren. Es bereitet mir Probleme, dass ich nicht weiß, wer meinen Vater umgebracht hat. Warum sind die Täter, nachdem sie ja ihre Strafe verbüßten, nicht bereit, ihren Tatbeitrag zuzugeben? Meine Sorge ist, dass sie noch immer stärker in ihre RAF-Welt eingebunden und ihr verpflichtet sind als der Gesellschaft, in der sie als freie Menschen leben möchten. Ein Bekennen der Taten müsste doch vor allem den Tätern bei einem Neuanfang helfen. Durch unklare Kenntnisse über die Taten besteht auch die Gefahr, dass Täter oder ihre Sympathisanten das Geschehen in Zweifel stellen, eventuell sogar abstreiten. Die genaue Kenntnis der grausamen Taten würde auch vor Verklärung schützen.

Zum Gnadengesuch von Herrn Klar nur so viel: Es ist die alleinige Entscheidung des Bundespräsidenten. Ich werde sie selbstverständlich akzeptieren, will aber meine persönliche Meinung nicht verschweigen. Für Herrn Klar ist gerichtlich eine Mindestverbüßungsdauer festgelegt worden, unter Berücksichtigung der besonderen Schwere der Taten. Wenn sie durch einen Gnadenerweis noch unterschritten wird, sollte es hierfür besondere und nachvollziehbare Gründe geben. Für mich ist nicht zu erkennen, dass eine besondere Härte vorliegt, die gemildert werden müsste, aber ich kenne den Gnadenantrag nicht. Ich meine weiterhin, dass bei einem Gnadenerweis bekannt sein muss, wofür er gewährt wird. Die individuelle Begnadigung setzt für mich voraus, dass auch der individuelle Tatbeitrag bekannt ist.

Es hat die Anregung gegeben, dass jetzt ein Schlusswort gesprochen wird, und wir lesen von einem Schlussstrich, der gezogen werden soll. Wie sollte er aussehen? Für meine Mutter beispielsweise sehe ich keine Möglichkeit eines Abschlusses. Sie wird lebenslänglich sehr erschwerte Bedingungen haben. Für Frau Mohnhaupt stellt sich dagegen mit ihrer Haftentlassung schon eine Art Abschluss ein. Wichtig wäre mir, dass sie als Beitrag zu einem Abschluss ihre Taten bekennt, sich von ihren Verbrechen distanziert und ein Zeichen des Bedauerns äußert, wenigstens gegenüber den Angehörigen der Begleiter.

Bei dem Begriff „Schlussstrich“ denke ich auch an die Äußerung des früheren Generalbundesanwalts Max Güde in einem Nachruf auf meinen Vater. Er sagte über die Terroristen der RAF, dass sie die „wahren Nachahmer und Nachfolger der braunen Verbrecher“ sind. In der Brutalität, in der sie gegen Menschen vorgehen, die nicht in ihr Bild passen, ähneln sich die Gewalttäter von „links“ und „rechts“. Wir tun gut daran, an jede Art politisch motivierter Verbrechen dauerhaft zu erinnern, um Wiederholungen zu vermeiden. Ich bin kein Befürworter von Schlussstrichen, weder unter die entsetzlichen Folgen des rechten noch die des linken Terrors.

Welches Resümee kann ich ziehen? Die Ereignisse um die RAF sind noch nicht aufgearbeitet. Wir müssten die Fakten kennen. Es ist nicht akzeptabel, dass ein so schweres Verbrechen wie die Ermordung meines Vaters Tätern pauschal zugeordnet wird. Es ist für die Würde der Opfer fatal und für die Angehörigen grausam, wenn eine solch wichtige Frage wie die, wer geschossen hat, im Dunkeln bleibt.

Wir möchten auch wissen, warum junge Menschen solche grauenvollen Irrwege beschritten haben. Wir sollten verständnisvoll sein, aber dürfen nicht leichtfertig und nicht töricht werden. Mein Hauptbedenken richtet sich darauf, dass Täter nach Verbüßung der Mindesthaftdauer in Freiheit gelangen, ohne ihre Verbrechen zugegeben und sich von ihnen distanziert zu haben. Ich denke nicht, dass die bis jetzt oder noch jetzt Inhaftierten wieder Gewalt ausüben werden. Meine Sorge gilt Nachahmern und Sympathisanten. Die Fakten über die schrecklichen Taten und Distanzierungen der Täter würden ihnen Wind aus den Segeln nehmen.

Die schwierige Aufgabe ist, das rechte Maß zu finden zwischen einer der Schuld angemessenen Strafe, der Gewährleistung der Sicherheit und der Resozialisierung der Täter. Mehrere Gesichtspunkte müssen also betrachtet werden. Es sollte auch die irritierende Situation verändert werden, dass man als Urteil „lebenslänglich“ verkündet und gleichzeitig auf die Vorschrift hinweist, dass die Täter wieder in Freiheit leben sollen. Bei der Festlegung der Mindestverbüßungsdauer muss beachtet werden, dass ein einzelner Mord nicht zu billig wird. Das Vorgehen sollte weitestgehend in Händen der Justiz bleiben, das Recht im Vordergrund stehen, aber durch das Gnadenrecht ergänzt werden. Der Gnadenerweis sollte allerdings nicht diffus erfolgen, sondern für eine bestimmte Person und für deren genau benannte Taten und aus nachvollziehbaren Gründen.

Insofern schätze ich die Losung „Gnade vor Recht“ nicht besonders und bevorzuge die Formel „Recht und Gnade“.

Noch einige Worte zu den Angehörigen. Es ist nicht schön, in der Opferrolle zu sein, auch wenn die Familien das Leid ertragen müssen. Deshalb sehe ich bei all dem Schmerz und Schrecken nicht nur Belastendes. So gibt es viele Gründe für mich, auf meinen Vater stolz zu sein. Er hat einen letztlich aussichtslosen Kampf als parteiloser Beamter ohne starke Unterstützung gegen einen grausamen Feind geführt. Sechs Wochen vor seiner Ermordung schrieb er, dass seine Behörde Verstärkung brauche: „Wenn ich frisch gestärkt aus dem Urlaub zurückkomme, werde ich Bonn auf die Pelle rücken. Angekündigt habe ich es schon.“ Ich bin überzeugt, dass mein Vater und seine getöteten Begleiter nicht nur Opfer, sondern auch Helden waren. Max Güde schrieb im Nachruf auf meinen Vater: „Er war ein Mann. Tapfer und mutig, unerschütterlich, willensstark, furchtlos, völlig unberührt von der Hysterie der Zeit und der Zeitgenossen und bei alledem von innerer Heiterkeit. Seinen Mitarbeitern war er in Treue verbunden, und er hat den Schild der eigenen Verantwortung immer vor sie gehalten. Besonnen und nüchtern hat er seine Aufgabe ins Auge gefasst, für die er in der deutschen Rechtsgeschichte kein Vorbild fand.“

Da die Gesellschaft zu jeder Zeit Menschen braucht, die in solcher Weise schwierigste Aufgaben unter höchstem persönlichem Einsatz übernehmen, wäre es in meinen Augen nicht nur angemessen gegenüber denen, die dabei ihr Leben gelassen haben, sondern auch klug gegenüber denen, die jetzt und in Zukunft solche Aufgaben erfüllen, das Andenken wach- und hochzuhalten. Es wird viel über die Verpflichtung gegenüber den Opfern geredet. Meines Wissens ist in Deutschland noch kein Weg, keine Straße und kein Platz nach meinem Vater benannt. In Karlsruhe ist jetzt nach 30 Jahren eine solche Maßnahme konkret geplant, eigentlich ein bisschen spät. Man könnte denken, es habe so langer Zeit bedurft, um zu klären, ob er wohl eine solche Würdigung verdiene. Dass ich heute hier sprechen konnte, verstehe ich vor allem als Zeichen der Wertschätzung für meinen Vater. Dafür möchte ich mich zum Abschluss meiner Rede bedanken.