Normen etablieren

KUNST Clemens von Wedemeyer widmet sich im Kunstverein Braunschweig der Arbeit des Sprachforschers Eberhard Zwirner

Die Dialekte liegen so weit auseinander, dass man glaubt, eine fremde Sprache zu hören

Der Frage, ob es eine angeborene, natürliche Sprache gibt, geht Paul Auster in seinem Roman „Stadt aus Glas“ nach. Der Protagonist wird von seinem Vater jahrelang allein in einem dunklen Zimmer eingesperrt. Ziel dieses Versuches ist es, herauszufinden, ob es eine Sprache Gottes gibt, die sich jenseits von Gesellschaft, Familie oder sozialen Beziehungen entwickelt. Das Experiment scheitert: Der Mann verfällt dem Wahnsinn und lernt als Erwachsener mühsam ein radebrechendes Kauderwelsch. Seine Gefühlswelten und Gedanken kann er kaum formulieren und seine Identität bleibt rudimentär. Offizieller Sprachgebrauch und individuelle Alltagssprache sind die linguistischen Sollbruchstellen einer Gesellschaft und ihrer Institutionen.

Im Mittelpunkt der Ausstellung „Every Word You Say“ von Clemens von Wedemeyer im Kunstverein Braunschweig steht die Arbeit des Sprachforschers und Nervenarztes Eberhard Zwirner. Zwirner gründete 1935 das Deutsche Spracharchiv und residierte zeitweilig in den Räumen des heutigen Kunstvereins. Eberhard Zwirners Arbeit bestand unter anderem darin, Dialekte zu sammeln und als Audiodokumente zu konservieren. Er verwendete dabei einen Fundus an alltäglichen Beschreibungen und Aussagen, die von allen Befragten verstanden und wiederholt werden konnten.

Hört man die Zusammenschnitte der verschiedenen Sprachweisen und liest parallel dazu die projizierte englische Übersetzung, findet man sich unmittelbar im Vexier- und Verwirrspiel der Sprach(er)findung wieder. Worte und Sätze, Sinnzusammenhänge und Bedeutungen mögen gleich sein, doch Tonfall und Ausdruck der jeweiligen Dialekte liegen so weit auseinander, dass man glaubt, jeweils eine fremde Sprache zu hören. Die Ausstellung macht so deutlich, dass Sprache als dynamisches Instrument vielfältig und wandelbar ist. Die Erfindung einer verbindlichen Grammatik und Aussprache erscheint als das Ergebnis einer großen Disziplinierung und Vereinheitlichung. Von der Aufzeichnung und Kategorisierung der Dialekte bei Zwirner ist es ein kurzer gedanklicher Sprung zur Behauptung einer vermeintlichen Verunreinigung von Sprache. Die eigene Sprache als tradiertes Kulturgut und Medium der persönlichen oder nationalen Identität zu bezeichnen findet sich im Lokalpatriotismus genauso wieder wie in der Losung von der schönen deutschen Sprache. Vermeintlich richtiges und falsches Sprechen lässt sich nun identifizieren.

Clemens von Wedemeyer, der mit aufwendigen Filmen und Installationen, wie etwa der auf der letzten Documenta gezeigten Arbeit „Muster“ (2012), bekannt geworden ist, reduziert seine Präsentation auf wenige installative Eingriffe. Ton- und Filmdokumente werden von ihm eher kuratorisch aufgearbeitet und arrangiert. Die Fenster des Kunstvereins sind abgedunkelt, was eine Atmosphäre schafft wie in einem Labor oder Tonstudio. Konzentriert kann man den präsentierten Dialogen folgen, denn Eberhard Zwirner sammelte auch Gespräche zwischen Ärzten und Patienten.

Ein Gespräch von 1952 dokumentiert den Verlauf einer vermeintlichen Genesung: Zunächst werden wir akustische Zeugen der Befragung einer Psychiatriepatientin durch einen Arzt. Die Frau antwortet wirr und affektiv. Dann hören wir ein weiteres Gespräch zwischen dem Arzt und der Frau nach einem neuronalen Eingriff, einer Lobotomie. Die Frau scheint ruhiger und konzentrierter, je länger man aber zuhört, umso klarer wird, dass ihre Emotionen merkwürdig gedämpft sind und ihr der Arzt beharrlich einzureden versucht, dass sie jetzt endlich gesund sei. Ein beeindruckendes Dokument aus der Frühzeit der Neurochirurgie und ein Zeugnis psychiatrisch-medizinischer Verfehlung. Man mag die Geistesgestörtheit der Frau an ihrer Sprache deutlich hören, die suggestiven und selbstgefälligen Aussagen des Doktors sind jedoch weitaus erschreckender.

In der Ausstellung gibt es auch einen Ausblick auf die Entwicklung von Software zur Analyse von Gesprächen. Schon Zwirner versuchte Verfahren zu entwickeln, um „herauszuhören“, ob ein Patient etwa Schmerzen simulierte. Von Wedemeyer wiederum porträtiert ein junges Unternehmen, das mit seiner sogenannten Psyware Unternehmen helfen soll, Bewerber zu analysieren und Profile zu erstellen. Die Statistiken, Grafiken, Tonfrequenzen und Kommentare zeigen aber vor allem eines: Durch Sprachanalyse können Normen etabliert werden, Abweichungen aufgespürt und mögliche Widerworte ausgeschlossen werden. Sprache als kreatives Medium, das alles in Frage stellen und neu bewerten kann, ist in diesen Zusammenhang nicht gefragt. Anpassung ist das Ziel. MAIK SCHLÜTER

■ Bis 16. November, Kunstverein Braunschweig