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Archiv-Artikel

„Hassen lohnt sich nicht“

Thomas Buergenthal hat Auschwitz überlebt, heute ist er Richter am Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Ein Gespräch über den Holocaust, Darfur und die Gerechtigkeit

DAS IST BUERGENTHAL

Thomas Buergenthal, 72, überlebte als Kind zwei Ghettos, einen Todesmarsch und die KZ Auschwitz und Sachsenhausen. Nach ein paar Jahren in Göttingen studierte er in den USA Internationales Recht und Menschenrechte und lehrte dort an renommierten Universitäten. Seit 2000 ist er Richter am Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Sein Buch ist bei S. Fischer erschienen.

INTERVIEW PHILIPP GESSLER

taz: Herr Buergenthal, haben Sie den Drang, sich fit zu halten?

Thomas Buergenthal: Naja, nicht so viel, wie ich wollte, aber ich versuche, wenigstens zu Fuß zur Arbeit zu gehen – warum fragen Sie?

Weil Sie in wenigen Jahren – Sie sind Jahrgang 1934 – einer der letzten Überlebenden von Auschwitz sein werden, der das Todeslager noch bewusst erlebt hat und klar berichten kann.

Ja, ich war knapp elf Jahre alt, als ich das Lager verließ.

Schmerzt es Sie, dass diese Geschichte bald nur noch über die Medien vermittelt werden kann, weil es keine Überlebenden mehr geben wird?

Einerseits ja, aber andererseits ist das nun einmal einfach die Realität – mit der muss man sich abfinden. Ich hatte Glück, ich war einer der jüngsten Überlebenden. Aber die meisten Leute sind jetzt schon über 80 Jahre alt.

Wenn alle Überlebenden irgendwann einmal gestorben sind: Wie wird sich das Erinnern verändern?

Es wird sich jedenfalls verändern. Ich merke das schon jetzt: Wenn ich irgendjemandem erzähle, wie ich überlebt habe, dann wird das oft ganz anders wiedergegeben. Das ist auch die Realität mit der Geschichte: Einerseits kann es sein, dass die Erzählung über den Holocaust viel objektiver wird, andererseits wird es wieder leichter politisierbar sein.

Und nüchterner?

Ja, und das merkt schon bei mir.

Wie meinen Sie das?

Wenn ich dieses Buch zehn Jahre nach der Befreiung geschrieben hätte, hätte ich es nicht so objektiv oder ruhig geschrieben wie heute.

War es eine Qual, es zu schreiben?

Nur an bestimmten Stellen. Etwa wenn ich aufschrieb, wie meiner Mutter damals die beiden kleinen Nachbarskinder, auf die sie aufpasste und die mir wie Geschwister waren, entrissen wurden, worauf sie umgebracht wurden. Oder wenn ich festhielt, wie ich meine Mutter in Auschwitz wiedergesehen habe. Diese Momente waren schwer. Aber im Allgemeinen ging es. Auch deshalb, weil ich diese Geschichten schon oft erzählt habe. Jedes Mal, wenn ich davon erzählte, ist es ein wenig leichter geworden.

Konnten Ihre Kinder etwas mit Ihren Geschichten aus dieser Zeit anfangen?

Das ist ein Punkt, den ich immer noch nicht verstehe: Mein ältester Sohn ist schon 45, und bis vor ein paar Jahren haben sie wenig Interesse an diesen Geschichten gezeigt. Meine Frau sagt, das liege daran, dass sie Angst hätten, mir wehzutun, wenn ich davon erzähle – was aber nie stimmte: Ich konnte immer darüber sprechen. Aber meine Kinder haben nie Fragen gestellt, auch keine schweren.

Hat Sie das geärgert?

Es hat mich geärgert, und es ärgert mich noch heute ab und zu, auch wenn meine Frau vielleicht Recht hat. Auch als das Buch fertig war und ich meinen Söhnen das Manuskript schickte, erhielt ich nicht die Reaktion, die ich erhoffte, etwa, dass sie weiter fragen würden – überhaupt nicht. Vielleicht hängt das damit zusammen, dass sie sehr beschäftigt sind und ihre eigenen Familien haben. Vielleicht hängt das auch mit ihrem Alter zusammen. Ich glaube, wenn man in meinem Alter ist, denkt man viel mehr an seine Eltern und Großeltern, als wenn man jung ist.

In Ihrem Buch schreiben Sie, Sie hassten die Deutschen heute, anders als unmittelbar nach 1945, nicht mehr – aber ist Ihnen noch unwohl, wenn Sie hierher kommen wie jetzt bei der Lesereise für Ihr Buch?

Nein, Hassen, das lohnt sich eigentlich gar nicht. Ich fühle mich sehr wohl in Deutschland. Meine Verwandten aus den USA, ursprünglich selbst aus Deutschland, konnten nie verstehen, dass ich oft hier war. Aber das ist mir nie schwer gefallen, im Gegenteil.

Weil Sie diese Jahre nach dem Krieg in Deutschland noch erlebt haben?

Ja, und ich weil ich die Entwicklung in Deutschland gesehen habe. Ich habe gesehen, wie die jungen Leute in den Sechziger- und Siebzigerjahren viel demokratischer und europäischer wurden – das gefiel mir sehr und hat mich sehr beeindruckt.

Sie schreiben, Sie hätten sich als Jurist auf das Völkerrecht und die Menschenrechte spezialisiert, weil Sie glauben, durch eine Stärkung dieser Rechtsbereiche könnte man „zukünftigen Generationen die schrecklichen, von Nazideutschland über die Welt verhängten menschlichen Tragödien ersparen“. Glauben Sie, das ist Ihnen als Richter am Internationalen Gerichtshof gelungen?

Wenn ich das sagen würde, wäre das ein bisschen übertrieben. Ich war unter anderem Richter am Interamerikanischen Gerichtshof in Lateinamerika – er ist so ähnlich wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg – und Mitglied der UNO-Menschenrechtskommission. In all diesen Orten hat man den Eindruck, dass man etwas dazu beiträgt, die Situationen ein wenig zu verbessern. Das ist eine sehr lange, langsame Arbeit. Es ist wie einen Ziegel auf den anderen zu mauern, bis man ein Haus gebaut hat. Aber wann das Haus fertig ist und was man überhaupt geschafft hat, das kann ich nicht sagen.

Schade.

Ich habe schon das Gefühl, dass die Gerichte und die Gremien, in denen ich gearbeitet habe, die Lage gebessert haben. Vielleicht ist es heute viel schwerer als damals in Deutschland, eine solche Vernichtung zu planen und durchzusetzen. Aber dass wir das Ziel noch lange nicht erreicht haben, das ist mir ganz klar.

Das internationale Recht kann die Massenmorde in Ruanda, Srebrenica oder die laufenden in Darfur nicht stoppen. Auch im Nachhinein werden die meisten Verbrechen nicht rechtlich gesühnt. Fühlen Sie sich hilflos?

Nein, wenn ich mich hilflos fühlen würde, dann würde ich das hier alles aufgeben, dann würde ich irgendwo an einem schönen Strand liegen und nicht in Den Haag arbeiten, wo das Wetter nie sehr gut ist. Aufgeben? Nein. Ich würde mir immer sagen, ich darf nicht aufgeben. Wenn ich mit meiner Erfahrung als Kind aufgäbe – was kann man dann von anderen Leuten erwarten, die auch solche Massenmorde verhindern möchten.

Als Ihr Gericht vor drei Jahren den israelischen Schutzwall in einem Rechtsgutachten als ungesetzlich verurteilte und den Abriss verlangte, stimmten Sie als einziger der 15 Richter dagegen. Was war Ihr Motiv?

Für mich war es ganz einfach: Wir hatten als Richter meiner Meinung nach nicht genug Fakten an der Hand, um eine solche Entscheidung zu treffen.

Sie hatten da eine extreme Minderheitenposition. Alle anderen Richter meinten, Sie hätten genug Fakten vorliegen.

Ja, aber das hat mich nie gestört. Das Interessante an dem Gutachten war: Die meisten Leute, darunter auch die Palästinenser, die das lasen, haben gesehen, dass meine abweichende Meinung allerlei Dinge gesagt hat, die auch meine Kollegen nicht gesagt haben, die den Schutzwall als illegal bezeichnet haben.

Zum Beispiel?

Etwa dass die israelischen Siedlungen im Westjordanland illegal sind und dass die Palästinenser ein Anrecht auf Selbstbestimmung und alle Menschenrechte haben, die Israel anerkannt hat. Deshalb haben einige gesagt, dass ich zwar gegen die Verurteilung des Schutzwalls gestimmt habe, aber es de facto eine Entscheidung 15 zu 0 war.

Sie sind von den USA zum Internationalen Gerichtshof entsandt. Sollten die USA auch dem Internationalen Strafgerichtshof zur Verfolgung von Menschenrechtsvergehen und Kriegsverbrechen beitreten?

Natürlich, und das habe auch schon öfter öffentlich in Amerika gesagt.

Aber die USA scheinen in dieser Frage keinerlei Bewegung zu zeigen.

Ja, sie hören nicht auf mich. Wie könnte ich sagen, die USA sollten nicht beitreten? Es ist wichtig, dass Amerika dabei ist und in dieser Hinsicht auch hilft. Aber ich habe keinen Zweifel: Eines Tages werden die USA diesem Strafgerichtshof beitreten. Das dauert zwar noch zehn oder fünfzehn Jahre – aber es kommt.

Als die USA 1984 wegen der Unterstützung paramilitärischer Aktionen gegen Nicaragua verurteilt wurden, erklärten sie Ihr Gericht für nicht zuständig, ärgern Sie solche Renitenzen?

Natürlich, auch wenn ich damals nicht Mitglied des Gerichts war.

Siegt am Ende immer die Macht vor dem Recht?

Das ist Ihre Meinung. Dass manche Regierungen so etwas machen und sagen, das ist so. Und es tut mir besonders leid, wenn es meine eigene Regierung macht. Aber wir leben in einer Demokratie, und die Regierung entscheidet. Meines Erachtens war das ein großer Fehler, dass die USA da nicht weiter gearbeitet haben, sondern ausgetreten sind aus dem Fall. Das geht gegen alle ihre Prinzipien. Wenn die USA sagen, sie seien für die Menschenrechte und die internationale „Rule of Law“, also die Herrschaft des Rechts, dann muss man sich auch so benehmen.

Und wenn Sie das erleben, was derzeit – Stichwort Abu Ghraib – im Irak passiert?

Dann erkläre ich öffentlich, dass ich das schrecklich finde, dass das passieren kann. Das ist das Einzige, das ich tun kann. Leider.

Als Kind haben Sie unendlich viel Hass, Unrecht und Leid erlebt. Als Richter erleben Sie das vermittelt noch heute. Zugleich sehen Sie, wie schwach das internationale Recht ist. Wie schützen Sie sich gegen Zynismus? Was lässt Sie hoffen?

Das Internationale Recht ist nicht immer schwach. Wenn man sich etwa überlegt, dass ich hier als Amerikaner in diesem Gerichtshof sitze, dabei sagen kann und darf, was ich Ihnen eben gesagt habe, dass ich zudem gegen die Vereinigten Staaten in einigen Fällen hier gestimmt habe und man mich trotzdem wieder nominiert hat –, dann stimmt mich das nicht zynisch, auch wenn meine Regierung einige Dinge getan hat, die mir nicht gefallen. Außerdem freuen mich die Reaktionen der letzten Monate in den USA und in Europa gegen den Krieg im Irak und für Menschenrechte. Das ist sehr wichtig. Es ist wunderbar, dass es eine größer werdende Unterstützung in der Öffentlichkeit für den Schutz der Menschenrechte in der Welt gibt. Das gibt mir Hoffnung. Das macht mich optimistisch.

Trotz allem?

Sie mögen sagen, ich bin ein Idealist, das ist ein blöder Kerl – aber ich habe eben einen Grund dafür, optimistisch zu sein.

Auch aufgrund Ihrer Lebensgeschichte?

Wahrscheinlich.