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Archiv-Artikel

„Jürgen ist ein Hirscheber mit Charakter“

Hirscheber Jürgen liebt Erdnüsse, lässt sich gerne mit Babyöl einreiben und kann sich einiges auf seine Potenz einbilden. Biologe Rudolf Reinhard, der Wildschwein-Kurator des Zoos, verrät alle Geheimnisse über den drolligen taz-Liebling. Und erklärt, warum Jürgen der Hype um Eisbär Knut kaltlässt

DAS IST JÜRGENS BOSS

RUDOLF REINHARD, 58 Jahre, arbeitet als Kurator für Vögel und wilde Schweine im Zoologischen Garten Berlin. Er ist also nicht Jürgens Ziehvater, aber doch immerhin der zuständige Abteilungsleiter – und nach eigener Aussage leidenschaftlicher Hirscheber-Anhänger. Der promovierte Biologe gehört zu dem kleinen Kreis von Wissenschaftlern, die sich weltweit um den Erhalt der stark bedrohten Art kümmern. Vor vier Jahren war Rudolf Reinhard zuletzt in Indonesien, der Heimat der Hirscheber. US FOTO: ZOO

von ULRICH SCHULTE

taz: Herr Reinhard, die taz-LeserInnen haben dem Hirscheber den Namen „Jürgen“ gegeben. Passt er zu ihm?

Rudolf Reinhard: Ja, ich finde den Namen sehr schön. Der Hirscheber ist ja ein sehr sympathisches Tier, und Jürgen hat schon was. Durch die taz-Aktion besitzt unser Hirscheber jetzt übrigens zwei Namen, vollständig muss es „Jürgen Waris“ heißen. Das Exemplar wurde bereits in seinem Geburtsort, dem Zoo Singapur, benannt. Wie für jedes extrem seltene Tier gibt es auch für Hirscheber ein internationales Zuchtbuch – und darin bekommt jedes Exemplar automatisch einen Namen.

Jürgen Waris. Klingt doch nett.

Die anderen Eber heißen zum Beispiel Adik oder Gedeh, eine Bega haben wir auch. Sie dürfen gute Freunde Elfi nennen, sie hat also auch einen Doppelnamen. Die Tierpfleger des Zoos München, aus dem sie stammt, haben sie Elfriede gerufen, trotz ihres offiziellen Namens.

Wie ist Jürgen denn zu Ihnen gekommen?

Er wurde am 23. Januar 1994 geboren und kam im Dezember 1995 in den Berliner Zoo, also als knapp einjähriges Jungtier. Jürgen Waris ist sehr pflegeleicht, aber kein besonders schmusiges Tier. Die Pfleger dürfen eine Zeit lang mit ihm spielen. Aber wenn er genug hat, schnappt er auch mal zu. Das ist nicht ganz ohne, Hirscheber haben sehr kräftige Schneide- und Backenzähne.

Jürgen ist also ein Hirscheber mit Charakter?

Aber hallo. Er ist etwas Besonderes. Wobei jedes Tier seinen eigenen Charakter hat. Es gibt verspielte, schüchterne, hässliche und hübsche, soweit man als Hirscheber hübsch sein kann. Sie sind wie wir Menschen. Und auf ihre Art sehr liebenswert. Während die einen Knut knuddelig finden, finden die Schweinepfleger und ich die Hirscheber knuddelig.

Wie nimmt Jürgen den Hype um das Eisbärbaby Knut wahr?

Er ist ein cleverer Bursche. Und er nimmt sehr genau wahr, was um ihn herum vorgeht. Ich glaube aber, ihm ist Knut ziemlich egal. Zu exotisch.

Wie kommt Jürgen bei den Zoobesuchern an?

Sehr gut, er muss also keineswegs neidisch auf Knut sein. In der Hässlichkeit liegt ein großer Reiz. Jürgen Waris und die anderen Hirscheber haben Stammbesucher, die oft beim Schweinegehege vorbeischauen. Eine Tierärztin und ihr Mann kommen zum Beispiel jeden Tag, sie bringt immer eine Banane mit. Die darf zwar nur der Pfleger verfüttern. Er tut das aber natürlich, wenn die Frau dabei ist.

Was frisst Jürgen sonst so?

Er ist – wie unser einheimisches Wildschwein – sehr unspezialisiert. Hirscheber fressen in freier Natur, also im indonesischen Regenwald, alles, was sie auf dem Boden finden. Früchte, Wurzeln, Laub, Vogelnester. Ein besonderer Leckerbissen für Hirscheber sind Erdnüsse, da tun wir immer eine Hand voll ins Futter.

Er sieht ganz schön propper aus. Wie viel wiegt er?

Ich schätze, so um die 60 Kilogramm. Man kann ihn also nicht mehr so knuddeln wie Knut.

Beeindruckend sind natürlich Jürgens Hauer. Wofür nutzt er die?

Das ist eine reine Schmuckbildung, also eine sinnfreie Entwicklung. Die Bezeichnung Hirscheber findet sich auch im Indonesischen wieder, dort heißt er Babi – für Schwein – und rousa – für Hirsch. Über das Tier erzählt man sich eine Geschichte: Der Legende nach haben die gebogenen Hauer nämlich sehr wohl eine Funktion. Angeblich hängen sich die männlichen Hirscheber nachts an ihren Zähnen in Bäume. Und können so, unerreichbar für Feinde, ruhig schlummern. Das ist natürlich eine Mär. Die oberen Eckzähne wachsen durch die Rüsseldecke nach oben und dann in einem Bogen auf den Schädel zu. Sie können sogar wieder in den Schädel einwachsen.

Das klingt ja lebensgefährlich.

Ja, im Grunde genommen ist es wie ein lebenslanger Selbstmordversuch, weil die Hauer ja immer weiter wachsen. Im Ernst: In freier Wildbahn brechen die Hauer immer mal wieder ab, beim Wühlen zum Beispiel. Sie bestehen aus einem recht brüchigen Material. Im Zoo muss sie der Tierarzt mit einer Zange abknipsen. Für den Eingriff muss man aber warten, bis Jürgen Waris gut gelaunt ist – zum letzten Mal haben wir die Zähne vor fünf Wochen gekürzt. Schweine sollte man nämlich nicht narkotisieren, weil sie einen sensiblen Kreislauf haben.

Mal eine persönliche Frage: Wann war Jürgen das erste Mal verliebt?

Er kam ja mit dem Weibchen Adik zu uns in den Zoo. Im Alter von vier Jahren haben die beiden zum ersten Mal Junge bekommen. Hirscheber sind spät geschlechtsreif und bekommen wenig Junge, meist Einlinge, höchstens Zwillinge. Ein Grund, warum die Art so akut vom Aussterben bedroht ist, ist die niedrige Fortpflanzungsrate. Jürgen Waris hat vier Junge gezeugt, was ein toller Zuchterfolg ist. Ich wette, außerhalb Indonesiens ist Jürgen Waris das potenteste Schwein überhaupt. Sie merken schon, die taz hat sich das richtige Tier ausgesucht.

Ist die Zucht von Hirschebern schwierig?

Ja. Es müssen viele Faktoren zueinanderpassen. Hirscheber sind sehr kluge Tiere, Männchen und Weibchen müssen sich sympathisch finden. Schwein ist nicht gleich Schwein – deshalb müssen die Zoos auch öfter mal Tiere austauschen. Ein anderes Beispiel: Wir ölen Jürgen Waris im Sommer ab und zu mit Babyöl ein. Ein Pfleger geht mit einer großen Flasche ins Gehege und massiert das Öl von oben bis unten mit einer Klobürste ein, was Jürgen Waris immer sehr genießt. In Deutschland ist die Luftfeuchtigkeit viel niedriger als in den Tropen, entsprechend wird die Haut der Hirscheber hier schnell rissig und trocken.

Es leben nur noch knapp 4.000 Exemplare in Freiheit. Warum sind die Hirscheber so bedroht?

Der Mensch brennt in Indonesien nach wie vor große Flächen Regenwald nieder. Die ursprünglichen Landschaften werden dann in Reis- oder Ölpalmenplantagen umgewandelt – und dem Hirscheber fehlt der natürliche Lebensraum. Außerdem jagen die Einheimischen Hirscheber, obwohl sie geschützt sind. Professor Alasdair Macdonald, ein Kollege der Universität Edinburgh, der sich mit Hirschebern in freier Wildbahn befasst, hat dokumentiert, dass es auf indonesischen Märkten Hirscheber-Fleisch zu kaufen gibt. Gerade reiche Leute leisten sich das als Leckerbissen. Interessanterweise isst sogar die muslimische Bevölkerung Hirscheber – obwohl es ja Schweine sind.

Was wird unternommen, um die Art zu retten?

Die Uni Edinburgh entwickelt gerade ein großes Schutzprogramm für die letzten frei lebenden Hirscheber. Mein Kollege Macdonald hat eine sehr negative Perspektive für die Zukunft der Art entwickelt: Die einzige Möglichkeit, die Hirscheber vor dem Verschwinden zu retten, sei, eine genetisch gute Population in Zoos auszubauen. Dafür reichen hundert fremdblütige Paare, dann kann man für 70 Jahre jegliche Inzucht vermeiden. Da stecken wir aber noch in den Anfängen. An diesem Vorhaben beteiligt sich auch der Berliner Zoo. Der Hirscheber ist eine so einmalige Tierart, dass man nicht aufs Geld schauen sollte.