„Religion spielt keine Rolle“

RECHT Die ExpertInnen des Deutschen Juristentages beschäftigen sich ausgiebig mit dem Phänomen der „Paralleljustiz“ – und debattieren dabei intensiv Bremer Fälle und Vorkommnisse

Mit der „herkömmlichen“ Vorstellung von außergerichtlicher Streitschlichtung hätten die Regelungen der Clans nichts gemein, sagt der Richter

Statt staatliche Gerichte bitten sie einen islamischen Friedensrichter um Hilfe – oder schlichten Konflikte unter ihren Familienclans. Die unter dem Reizwort Paralleljustiz oder Scharia-Gerichtsbarkeit kritisch beäugte Praxis vor allem von Migranten hat für Konfliktstoff auf dem 70. Deutschen Juristentag in Hannover gesorgt. Den Experten, die rätselten, ob die Paralleljustiz das Rechtssystem nun entlastet oder bedroht, gab der Bremer Richter Klaus-Dieter Schromek bereitwillig Nachhilfe. „Diese Schlichtungen behindern die Justiz massiv“, bilanzierte Schromek seine Erfahrungen aus einer Prozessserie um eine blutige Banden-Schießerei auf der Bremer Discomeile. Mit der herkömmlichen Vorstellung von außergerichtlicher Streitschlichtung hätten die Regelungen der Clans nichts gemein.

Um nach Gewalttaten wieder Ruhe zu schaffen, würden etwa kriminelle Aktivitäten im Drogen- oder Türsteherbereich neu aufgeteilt, oder dem anderen Clan eine Frau für ein noch lediges Mitglied übermittelt. „Die Frauen sind immer die Verliererinnen“, sagte Schromek. „Sie haben weder Recht noch Stimme.“ Mit religiösem Recht hätten die Deals nichts zu tun.

Eines der Hauptthemen des heute zu Ende gehenden Juristentages ist die Frage, ob die Justiz im Strafrecht auf kulturell oder religiös geprägte Vorstellungen von Zuwanderern eingehen muss, etwa bei Blutrache oder sogenannten Ehrenmorden. Die Paralleljustiz müsse aus dem Hinterzimmer geholt werden, Dialog und Austausch seien nötig, meinte ein Jurist. Man müsse nicht über, sondern mit Muslimen reden, forderte der Vertreter einer muslimischen Gemeinde. Angesichts der Vielzahl unterschiedlicher Töne rangen die Fachleute sogar darum, ob sie zur Paralleljustiz überhaupt eine Empfehlung abgeben können – und ob man die Vokabel überhaupt verwenden sollte.

Mit der Annahme, es gebe mitunter einen „Islam-Rabatt“ bei der Verurteilung muslimischer Straftäter, räumte die Juristin und Kriminologin Julia Kasselt auf. Sie referierte aus ihrer Dissertation am Max-Planck-Institut für internationales und ausländisches Strafrecht, nach der sogenannte Ehrenmörder in Deutschland in den letzten Jahren härter bestraft wurden als Täter sonstiger Mordtaten unter Lebenspartnern. „Religion spielt als solches eigentlich keine Rolle“, stellte sie nach ihrer Analyse von 78 sogenannten Ehrenmorden fest.

Auf welch schwierigem Terrain sich die Juristen begeben hatten, zeigte sich schon bei der Abgrenzung der Religion zur bloßen Weltanschauung, etwa bei der Frage, ob Scientology-Vertreter auch Geistliche sind. Aber auch die Feststellung, wofür der Islam tatsächlich steht, sorgte für Streit. Ein Jurist, der mit einigen Koran-Zitaten ein kritisches Licht auf die Weltreligion werfen wollte, wurde prompt von einem muslimischen Vertreter kritisiert. Per Handschlag legten sie den Streit schnell bei. Nicht so leicht wurden sich die Experten in anderen Punkten einig, etwa ob es im Kampf gegen Zwangsheiraten weiterer Durchgriffsmöglichkeiten für die Justiz bedarf.  (dpa)