: Demontage des Klischees vom Mythos
FILM UND MALEREI Der Experimentalfilmer Gustav Deutsch begibt sich mit „Shirley – Visionen der Realität“ auf die Spuren des modernistischen US-Malers Edward Hopper (1882-1967) und deutet sie um
Die Bilder Edward Hoppers sind so ikonisch, dass der Maler im Kontext der amerikanischen Moderne inzwischen mit so ziemlich jedem Klischee belegt wurde, Meister des Realismus, Chronist der Einsamkeit, Wegbereiter des „Amerikanischen Jahrhunderts“, ästhetisch beeinflusst vom Film noir. Wo sich die Klischees in dieser Form häufen, blickt der Filmemacher und gelernte Architekt Gustav Deutsch besonders genau hin. Der Österreicher Deutsch zählt zu den wichtigsten gegenwärtigen Experimentalfilmern. Anders als etwa in Ken Jacobs Klassiker „Tom, Tom, the Piper’s Son“ geht es in seinen Found-Footage-Filmen wie „Welt Spiegel Kino“ oder der zwölfteiligen Werkreihe „Film ist“ nicht um eine Tiefenanalyse des Kinobildes, sondern um dessen Umdeutung. Eine Rekontextualisierung. Was bietet sich für diesen interpretatorischen Ansatz besser an als ein auserzähltes künstlerisches Oeuvre wie das Hoppers, dessen Lichtverhältnisse – zumindest bezogen auf seine populären Ölbilder – ohnehin stark vom Kino beeinflusst waren?
Deutschs neuer Film „Shirley – Visionen der Realität“ ist ein faszinierendes Gedankenspiel, das stellenweise ein wenig unter seiner Konzepthaftigkeit leidet, auf Nebenwegen aber ein interessantes Licht auf das „Amerikanische Jahrhundert“ wirft. Dreizehn nicht immer repräsentative Bilder Hoppers – auf das ikonischste von allen, „Nighthawks“, verzichtet er dankenswerterweise – hat Deutsch für seinen Film ausgewählt. Filmbilder gewissermaßen, die er Kapitel für Kapitel in Tableaux vivants verwandelt. Im Mittelpunkt seiner dreizehn Miniaturen steht Shirley, die namenlose Frau aus den Gemälden, für die Hoppers Ehefrau Josephine Nivison Model stand.
Shirley wird bei Deutsch von der Tänzerin Stephanie Cumming dargestellt. Sie ist Schauspielerin, zunächst in Stanislawskis Group Theatre, später im Living Theatre in New York. Die Figur steht also in einer linken Tradition, ihr Mann Stephen arbeitet als Fotojournalist. Doch der Freiheitsdrang der jungen Frau kann durch die Kunst allein nicht mehr gestillt werden.
Einengende Verhältnisse
Shirley ist zwar nicht in Suburbia eingesperrt, doch sie empfindet die wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse im Amerika der dreißiger Jahre bis weit in die sechziger Jahre hinein (diese Dekaden deckt der von Deutsch gewählte Bilderzyklus ab) als einengend. Dreizehn Bilder, darunter „Hotel Room“ (1931), „Office at Night“ (1940), „Morning Sun“ (1952) und „Intermission“ (1963), beschreiben Stationen im Leben von Shirley: im ständigen Widerspruch mit ihren Gefühlen, verzweifelnd an ihrer gesellschaftlichen Rolle.
Dass der Regisseur Shirley als emanzipierte, moderne Frau erfindet, nicht unähnlich der Figur von Peggy Olson in der TV-Serie „Mad Men“, ist eine Replik auf Hopper, der privat sehr konservative Ansichten vertrat, speziell, was Frauenrollen anging. „Shirley – Visionen der Realität“ ist also nicht als Verbeugung vor Hoppers Werk gemeint – und genauso wenig als Kritik zu verstehen.
Beides wäre aus Deutschs Sicht vermessen. Vielmehr dienen Hoppers Gemälde wie schon die handkolorierten Stummfilmfragmente in Deutschs früheren Arbeiten als Rohmaterial für eine historische Revision. Der Filmemacher demontiert nicht den Mythos, sondern das Klischee vom Mythos. Seine nahezu statischen, höchstens durch einen leichten Schwenk oder Zoom bewegten Kompositionen, in hochgradig stilisierten Interieurs, vor gemalten Hintergründen, verkehren Hoppers stilbildenden Realismus ins Gegenteil: eine theaterhafte Inszenierung von Menschen und Räumen. Als Zusammenarbeit einer Tänzerin, einer Malerin und eines Architekten hat Deutsch den Film nonchalant beschrieben.
ANDREAS BUSCHE
■ „Shirley – Visionen der Realität“, Regie: Gustav Deutsch. Mit Stephanie Cumming, Christoph Bach u. a. Österreich 2013, 93 Min.