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Archiv-Artikel

Liebe und andere Sozialleistungen

Eine Sachbearbeiterin in einem Berliner Bürgeramt ließ ihrem Freund über Jahre hinweg Sozialhilfeleistungen zukommen – im Wert von insgesamt 743.240 Euro und 12 Cent. Bis der Betrug aufflog. Jetzt arbeitet die Stadt an einer Verbesserung der Computersoftware, die den Missbrauch möglich machte

VON BARBARA BOLLWAHN

Ingrid S. lernt ihn im August 2002 bei der Arbeit kennen. Sie ist Sachbearbeiterin in der Abteilung „Bürgerdienste und Sozialhilfe“ beim Bezirksamt Lichtenberg und kümmert sich um die Betreuung von Obdachlosen und für von Obdachlosigkeit bedrohte Menschen. Sie vertritt eine Kollegin und ist zuständig für den Buchstaben „B“. So kommt Klaus B. zu ihr. Er ist vorübergehend wohnungslos. Ingrid S. legt eine Akte an und weist die Sozialhilfe an. Einige Monate später meldet sich Klaus B. telefonisch ab. Er sagt, er habe Arbeit gefunden. Im Oktober 2003 wird er wieder beim Sozialamt vorstellig. Dieses Mal bearbeitet Ingrid S. keinen Fall, sondern einen Mann, in den sie sich verliebt.

Klaus B. gibt der gelernten Erzieherin, die nach einer gescheiterten Ehe vier Kinder alleine großgezogen hat, das Gefühl, vielleicht doch noch das private Glück zu finden. Der Mann mit den korrekt frisierten grau-weißen Haaren und der weltgewandt-hemdsärmligen Art ist nett zu ihr und zuvorkommend. Ingrid S. fühlt sich von ihm verstanden. Außerdem tritt er als einer auf, der viel erlebt und Großes vorhat. Sie treffen sich privat und werden ein Paar.

Klaus B. zieht in ein Häuschen auf dem Grundstück von Ingrid S. Ihre Kinder, ihre Mutter, ihre Freunde, alle sind begeistert von dem neuen Mann in ihrem Leben. Er erzählt, dass er auf einer Bohrinsel gearbeitet habe, Tiefseetaucher war und jetzt dabei sei, in Zypern eine Werft aufzubauen und auf der grünen Insel im Mittelmeer auch bald eine Wohnung beziehen werde. Einer ihrer Söhne kündigt seinen Job bei der Bundeswehr, um bei dem Werftprojekt einzusteigen.

Klaus B. hat aber ein Problem: Ihm fehlt das Geld für die Verwirklichung seiner Pläne. Der Sozialhilfeempfänger fragt die Sachbearbeiterin, ob sie nicht gefälschte Auszahlungen vornehmen könne. Er spricht von einer Investition in die Zukunft. Ingrid S., die sich noch nie in ihrem Leben etwas zuschulden kommen ließ, glaubt an eine gemeinsame Zukunft. Und wird kriminell.

Obwohl sie nicht viel von Computern versteht und erst zwei Jahre auf dem Sozialamt arbeitet, ist es ein Kinderspiel, falsche Anweisungen auszustellen. Ingrid S. reaktiviert geschlossene Akten von ehemaligen Sozialhilfeempfängern und weist auf deren Namen Zahlungen an. Für Sozialhilfe, Mietkosten, Bekleidungsbeihilfen, Möbelanschaffungen oder Krankenbehandlungen.

Am 4. Dezember 2003 druckt sie die erste Zahlungsanweisung an Klaus B. aus. Sie trägt ihn als Bevollmächtigten eines von ihr wiederbelebten Sozialhilfeempfängers ein, setzt ihre Unterschrift darunter und legt das Papier einer Kollegin vor, so wie es Vorschrift ist. Aus Vertrauen und Zeitmangel setzt diese ihre Unterschrift unter den Beleg, ohne sich die Akte dazu zeigen zu lassen. Klaus B. holt sich 1.457 Euro an der Kasse ab und Ingrid S. löscht die neu angelegten Daten. Eine Sicherheitslücke im Computersystem macht es möglich. Später, als Hartz IV kommt und Barzahlungen nicht mehr möglich sind, überweist sie das Geld auf ein Konto.

Klaus B. nennt ihr die ungefähren Summen, die er braucht. Für Arbeitsmaterial und Löhne. Er legt ihr Papiere vor, die ihn als Vorstand der Werft ausweisen. Bis zum Oktober 2005 stellt sie Zahlungsanweisungen aus, manchmal mehrmals an einem Tag. Das Fälschen wird ein fester Bestandteil ihres Büroalltags. Und es bringt sie in eine schizophrene Situation: Sie weiß, dass sie etwas Kriminelles tut. Aber sie kann dem Mann, der ihr ein gemeinsames Leben in Aussicht stellt, nichts abschlagen.

In 22 Monaten fälscht sie 247 Zahlungen, manchmal mehrmals an einem Tag. Mal sind es 1.898, 2.214, 3.896 Euro. Oder 5.894, 6.857 bis hin zu 10.000 Euro. Wenn Abrechnungen für Mietkosten über einen längeren Zeitraum oder Möbelanschaffungen im größeren Maßstab angewiesen werden, können schnell hohe Summen zusammenkommen. Der Gesamtbetrag macht schließlich ein stattliches Vermögen aus: 743.240 Euro und 12 Cent.

Acht Monate nach der letzten Überweisung fliegt der Schwindel bei einer routinemäßigen Überprüfung von gewährten Darlehen auf. Ingrid S. hatte ein Darlehen gewährt, das nicht zurückgezahlt wurde. Zudem waren in den Akten keine Unterlagen, Anträge oder Auszahlungsbelege zu finden. Bei einer zielgerichteten Suche unter ihrem Bearbeitungszeichen werden weitere Unstimmigkeiten entdeckt. Am 15. November 2006 wird sie verhaftet und kommt in Untersuchungshaft.

Da arbeitet sie schon nicht mehr im Sozialamt. Wenige Wochen nach der letzten Überweisung an Klaus B. ist sie auf eigenen Wunsch mit einer Abfindung ausgeschieden. Doch aus ihrem Traum von einer glücklichen Zukunft wird ein Albtraum. Nach vier Monaten Untersuchungshaft wird Ingrid S. Ende März vom Landgericht angeklagt wegen schwerer Untreue und Bestechlichkeit.

Wenige Meter neben ihr sitzen der 59-jährige Klaus B., an den 612.000 Euro gegangen sind. Ebenfalls angeklagt ist ein Unternehmensberater, der für die Überweisungen ein Konto zur Verfügung gestellt und dafür 98.000 Euro kassiert hat. Ingrid S. selbst hat 30.000 Euro behalten, die letztendlich aber wieder in die Taschen von Klaus B. geflossen sind. Der würdigt sie keines Blickes. Im Juli vergangenen Jahres haben sie sich das letzte Mal gesehen. Am Telefon sagte er ihr, dass er viel zu tun und keine Zeit habe. Ingrid S. hatte ihre Schuldigkeit getan.

Zu der Anklage äußert er sich mit keinem Wort. Sein Anwalt verliest für ihn eine Erklärung. „Die mir gemachten Vorwürfe sind richtig“, heißt es da. Und: „Wenn ich die Anklage so lese, bin ich überrascht, wie viel Geld da zusammengekommen ist.“ Er sei viel gereist und habe eine große Leidenschaft für Spielcasinos. Das meiste Geld habe er beim Spielen ausgegeben. „Der große Wurf“ sei ihm aber nicht gelungen. Kein Wort der Entschuldigung, des Bedauerns, der Reue. Während der Anwalt seine Erklärung verliest, beugt er sich mit dem Oberkörper bis zu den Knien hinunter, als wolle er sich unsichtbar machen. Kurz darauf richtet er sich wieder auf und sitzt auf seiner Bank, als sei er ein Antragsteller auf einer Behörde.

Auch Ingrid S. äußert sich nicht zur Anklage. Dafür spricht der Körper der Frau, die nur von hinten zu sehen ist, Bände. Ihre Schultern hängen nach unten. Oft stützt sie den Kopf in die rechte Hand, die sich an einem Taschentuch festhält. Ihr Anwalt verliest eine kurze Erklärung für sie: „In der Tat ist es so passiert, wie in der Anklage geschildert.“ Das Gericht verzichtet auf die Vernehmung von Zeugen. Ingrid S. hat ein umfassendes Geständnis abgelegt, als sie verhaftet wurde. Zu ihrem Ausscheiden aus dem Bezirksamt sagte sie: „Ich habe den Druck nicht mehr ausgehalten.“ Die Richterin, die keinen Zweifel daran hat, dass Ingrid S. schamlos von Klaus B. ausgenutzt wurde, fragt verständnisvoll nach: „Ihnen ist klar geworden, dass sie nicht widerstehen können?“ Ingrid S. nickt still.

Auch für den Staatsanwalt ist die Sache klar. Einerseits handele es sich um „eine wirklich beträchtliche Schadenshöhe, die dem Land Berlin entstanden ist“, sagt er in seinem Plädoyer. Das Vertrauen in den öffentlichen Dienst sei durch den Betrug erschüttert worden. Doch er sieht auch eine Reihe von Aspekten, die die Schuld der Angeklagten verringern: „Sie hat von Anfang an reinen Tisch gemacht. Die Strafverfolgung hat die ganze Zeit wie ein Damoklesschwert über ihr geschwebt. Sie ist einem hochkarätigen Betrüger auf den Leim gegangen.“ Klaus B. sei einer, dem man seine Geschichten abnimmt, nicht nur sie sei auf ihn hereingefallen. Zudem habe das Computersystem den Betrug leicht gemacht, selbst für jemanden ohne kriminelle Energie. Er fordert vier Jahre Haft.

Das letzte Wort hat die Angeklagte. „Ich bereue schrecklich, was ich getan habe“, sagt sie mit leiser Stimme. Die Richterin verurteilt sie zu drei Jahren und neun Monaten Gefängnis. Den Haftbefehl hebt sie auf. Ingrid S. kann die Strafe im offenen Vollzug antreten. „Das Unrecht müssen wir ihr nicht vor Augen führen. Wir wollen ihr eine Perspektive ermöglichen.“ Damit ist das Verfahren gegen Ingrid S. beendet. Der Prozess gegen Klaus B. und den Unternehmensberater wird fortgeführt. Ein Urteil soll kommenden Dienstag fallen.

Claudia Schirrmeister ist die Leiterin des Sozialamtes Lichtenberg. Sie verfolgt den Prozess auf der Besucherbank. Für sie ist die Sicherheitslücke in der Software nicht neu. Im Bezirksamt wird, wie in allen Berliner Behörden, mit dem Programmsystem „Prosoz“ gearbeitet. Das ist ein sogenanntes Dialogsystem auf PC-Basis, mit dem die Berechnung, Zahlbarmachung und Steuerung von Leistungen möglich ist. Alle Sachbearbeiter haben Zugriff auf Einzelfälle, um Daten einzusehen oder Änderungen vorzunehmen. Damit soll auch der Missbrauch von Leistungen verhindert werden. Doch es ist auch möglich, Daten einzugeben und wieder zu löschen, so wie es Ingrid S. getan hat. „Ist ein Vorgang gelöscht“, sagt Claudia Schirrmacher, „ist die Akte sauber.“ Derzeit arbeitet eine Arbeitsgruppe an der Installation eines verbesserten Systems. Es heißt „Open“ und soll die Sicherheitslücke schließen.

Die Lücke im System und die Arbeitsüberlastung der Mitarbeiter sind für die Amtsleiterin das eine. Das andere sind die Motive von Ingrid S. Darüber schüttelt sie den Kopf. „Wie kann man so dumm sein?“, fragt sie fassungslos. „Selbst aus Liebe, nein.“ Das Bezirksamt hat bereits die entsprechenden Anträge gestellt, um das veruntreute Geld zurückzufordern. Doch viel Hoffnung macht sich Claudia Schirrmacher nicht. Klaus B., dessen Obdach in den nächsten Jahren das Gefängnis sein wird, hat das Geld für ein Luxusleben durchgebracht.

Ingrid S. hat ihre Wohnung verloren. Sie konnte die Miete nicht mehr zahlen, vorerst wohnt sie bei ihrer Tochter. Den Großteil ihrer Abfindung von 79.000 Euro hat sie Klaus B. gegeben. Als Investition in eine gemeinsame Zukunft.