Der Herausforderer des Kreml

Die Welt des Schachs sei ihm zu begrenzt, sagte Garri Kasparow, als er sich vor zwei Jahren aus der Profiwelt des Schachs zurückzog. Kasparow war nicht nur der jüngste Schachweltmeister. Er absolvierte auch eine beispiellose Karriere. Für Schachspieler ist der heute 44-Jährige zu einer lebenden Legende geworden. Als er sich vom Spiel verabschiedete, versprach er, sich mit gleicher Passion und Entschlossenheit der Politik zu widmen.

Damals wurde er belächelt, niemand glaubte dem aufbrausenden Redner, der sich gelegentlich wie ein Volkstribun gerierte. Inzwischen ist Kasparow auch in der Politik eine Galionsfigur. Aber nicht, weil der furchtlose Streiter für Demokratie in Russland auf eine breite Gefolgschaft verweisen könnte. Die Opposition, die er zu einem losen Zweckbündnis vereinigt, besetzt bislang nur eine Nische. Zur Führungsfigur baute ihn der Kreml auf, der demokratischen und oppositionellen Parteien nach und nach die Existenzgrundlage entzog und sie aus dem politischen Feld verbannte. Übrig blieb – als fast einzige sichtbare Figur –Kasparow. Der nutzt seine Popularität und greift die Machthaber im Kreml an.

Noch schützt ihn sein Bekanntheitsgrad im Westen vor Vergeltungsmaßnahmen. Er fürchtet sich aber, auch wenn er es öffentlich nicht zeigt. Wenn er zu Veranstaltungen der Vereinigten Bürgerfront in die russische Provinz reist, steckt er ein Proviantpaket ein. Was an Bord gereicht wird, könnte mit Gift versetzt sein wie einst bei der im Herbst ermordeten Journalistin Anna Politkowskaja. In der Provinz warten meist schon von der Staatsmacht gedungene Claqueure, die ihn mit Sprechchören und Transparenten begrüßen. „Ja zum Schachspieler – Nein zum Politiker.“ Kasparow ist kein Machtfaktor, politisch eher ein kleines Licht. Aber er hält ganze Abteilungen der Staatssicherheit auf Trab.

Das erinnert an den Schachspieler, der mit seinen Meisterpartien gegen Menschen und Computer zum Inbegriff des Superhirns wurde und seine Gegner am Brett mit physischer Präsenz und eiskaltem Mienenspiel das Fürchten lehrte. Quasi aus dem politischen Off tauchte Kasparow auf und forderte den Kreml heraus. Er ist weit davon entfernt, ihn matt zu setzen, gelungen ist es ihm aber, ihn zum vorzeitigen Offenbarungseid zu verleiten.

Nach den Ereignissen von Moskau und St. Petersburg liegen die Wesenszüge des „souveränen“ russischen Wegs offen. Kasparow ist ein Spieler, aber kein Träumer. Wahlen könne die Opposition nicht gewinnen, aber das Recht auf Wahlen zurückerobern. „Jeder Zug, mit dem wir im Spiel bleiben, ist schon ein Sieg.“ Das klingt bescheiden und gar nicht russisch. KLAUS-HELGE DONATH