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Archiv-Artikel

Für 9 Euro übers Meer

AUS DER CAMARGUE DOROTHEA HAHN

Salzig ist die Geschichte von Salin-de-Giraud von Anbeginn. Das Dorf in den Sümpfen am äußersten Zipfel des Rhônedeltas entsteht, als Napoleon III. Deiche bauen lässt. Ein Industrieller schickt Boote über das Mittelmeer. Sie kommen voll mit Arbeitern zurück. Die Männer von den griechischen Inseln, aus Italien und später auch aus Armenien legen rechteckige, flache Becken an. Leiten Meerwasser hinein. Lassen die Feuchtigkeit unter der Sonne verdunsten. Ernten das Salz. Häufen es zu schneeweißen Pyramiden auf. Und verladen es für den Transport. Sie machen das neue Dorf in der Camargue zur größten offenen Meerwassersaline Europas.

Einhunderteinunfünfzig Jahre danach schickt sich wieder ein Patron in dem Salzdorf an, das Mittelmeer zu überqueren. Doch er will keine neuen Arbeiter nach Salin-de-Giraud holen. Dieses Mal bringt er die Arbeit weg. Nach Tunesien. Dort gibt es auch Salz. Meer. Und Sonne. Und viel günstiger. In der Camargue kostet ein Arbeiter 1.400 Euro. An der gegenüberliegenden Küste ist es nur ein Zehntel.

„Wir haben es kommen sehen“, sagt Raouti Zenasni von der Gewerkschaft CGT. Seit Jahren investiert das Unternehmen Salins-du-Midi, Frankreichs größter und Europas drittgrößter Salzproduzent, in vier Standorte in Tunesien. Modernisiert Hafenanlagen und Maschinen. Vergrößert die Produktion. Sucht neue Absatzmärkte. In der Camargue arbeitet das Unternehmen mit einer veralteten und viel zu kleinen Verladeanlage, beschränkt sich auf wenige Kunden. „Das Einzige, was die Salins-du-Midi hier noch interessiert, ist das Land“, sagt der Gewerkschafter, „eine intakte Feuchtlandschaft, mit rosa Flamingos und unberührten Stränden. Wo gibt es das sonst?“

Jetzt hat der französische Hauptkunde den Vertrag gekündigt. Die Chemiegrupe Arkema, die bislang 300.000 der 750.000 jährlich in Salin-de-Giraud produzierten Tonnen Salz kauft, argumentiert mit dem Preis: Eine Tonne Salz aus Tunesien ist 9 Euro billiger. Der Camargue bleibt noch die Produktion von Streusalz für verschneite Straßen im nordeuropäischen Winter.

Der Staat wird erpresst

Die Nachricht von der Krise platzt in die Endphase des französischen Präsidentschaftswahlkampfs. Am letzten Dienstag im März teilt der Generaldirektor der Salins-du-Midi mit, dass mindestens 73 Beschäftigte gehen sollen – mehr als die Hälfte der Belegschaft. Die restlichen 55 Leute will Generaldirektor Philippe Kessler behalten. Eventuell. Wenn der Küstenschutzverband ihm einen Teil des Geländes abkauft. Andernfalls werde er alle Arbeiter auf die Straße setzen und die Salzproduktion in der Camargue komplett einstellen.

Eine unverhohlene Erpressung des französischen Staates. Der Generaldirektor des Unternehmens, das 300 Millionen Euro Jahresumsatz macht und einer der größten Landbesitzer in Frankreich ist, begründet seinen Plan „wirtschaftlich“.

„128 Arbeitslose – der Tod unseres Dorfes“, der Slogan steht sofort nach der Ankündigung auf den Mauern des 2.000-Einwohner-Orts Salin-de-Giraud. Knallrosa ist auf die Stellwände vor dem Wahlbüro, auf denen in anderen französischen Gemeinden Plakate mit den Kandidaten kleben, ein einziges Wort gesprüht: „Arbeit“.

Ein Expertenbüro in Marseille bescheinigt, dass der Salzstandort in der Camargue „wirtschaftlich rentabel“ ist. Drei Tage nachdem die geplanten Massenentlassungen bekanntgeworden sind, schicken Raouti Zenasni und seine Betriebsratskollegen einen Hilferuf an die Präsidentschaftskandidaten. „Seit 1856 haben vier Generationen von Beschäftigten Salz produziert und dafür gesorgt, das Ökosystem der Camargue zu erhalten“, schreiben sie, „unter dem Vorwand mangelnder finanzieller Rentabilität will unsere Direktion jetzt 128 Arbeitsplätze vernichten.“

Bis heute haben nur zwei Kandidaten geantwortet. „Denen sind wir egal“, sagt der 48-jährige Georges Argyris bitter. Schon sein Vater arbeitete im Salz.

Nicolas Mavroulis, 51, ebenfalls Nachfahre griechischstämmiger Salzarbeiter, ist überzeugt: „Nur Kämpfen kann uns retten.“ Er kämpft. Vor Jahrzehnten wurde sein Großvater „von den Inseln“ in die Camargue geholt, am Mittwoch letzter Woche nimmt Nicolas Mavroulis zusammen mit 40 Kollegen den derzeitigen Fabrikdirektor in dessen Büro gefangen.

Der Chef ist kreidebleich und stottert, als die 40 Arbeiter vor ihm stehen. Am Morgen hatte er ein Treffen mit dem Betriebsrat abgesagt. Ohne Begründung, ohne neuen Termin. Die Salzarbeiter brachte die Absage in Rage.

Sylvie Guilleaume ist eine von zwölf Frauen in dem Männerbetrieb. Die Sache ist gerade erst zwei Tage her. „Wir haben den Direktor gefangen genommen“, erzählt die 43-Jährige, „aber wir haben ihm kein Härchen gekrümmt.“ Sie arbeitet seit 25 Jahren in dem Betrieb. Sie denkt inzwischen öfter an die „sechs Millionen Armen in Frankreich“. Sie sagt: „Alle wissen doch, wohin Arbeitslosigkeit führt. Verschuldung, Scheidung, Krankheit.“

Der gefangene Fabrikdirektor kommt mit dem Schrecken davon. Er ruft den Generaldirektor der Salins-du-Midi an. Aus dem 70 Kilometer entfernten Marseille eilt der Vizepräfekt als Vertreter des Staates herbei. Der kommunistische Bürgermeister von Arles, der auch für das 45 Kilometer entfernte Dorf in der Camargue zuständig ist, und der sozialistische Regionalpräsident bieten ihre Vermittlung an. Bei Einbruch der Dunkelheit, fünf Stunden nach Beginn der Gefangennahme, steht ein Termin für einen „runden Tisch“ fest. Der Direktor darf gehen.

Schließt bald auch Solvay?

Salin-de-Giraud ist ein Arbeiterdorf. Die Bewohner der Reihenhäuschen wählen mehrheitlich kommunistisch. Es gibt eine orthodoxe Kirche für die Nachfahren der Griechen. Eine katholische für die anderen. Ein Geschäft, das Köder für die Angler verkauft. Und eine Stierkampfarena, in der junge Männer bei der Course Camarguaise den dunkelbraunen Stieren hinterherrennen.

In der Bar des Sports, wo der blassgelbe Anisschnaps zusammen mit Mandeln in einer dicken Salzschicht serviert wird, erzählt Barbesitzer und Salzarbeitersohn Jean-Luc Spagna von der Währung, die einst der erste Salzindustrielle in Salin-de-Giraud schlau eingeführt hat. Die Arbeiter trugen damit ihren Lohn direkt in die Geschäfte und Bars des Fabrikherrn zurück. Zu der geschlossenen Gesellschaft rund um das Salz gehörte auch der zweite Arbeitgeber im Dorf. Die Chemiefabrik Solvay eröffnete wenige Jahre nach der Salzfabrik und blieb jahrzehntelang deren Hauptkunde. Derzeit zirkulieren Gerüchte, wonach auch Solvay in ein Niedriglohnland verlagert werden soll.

Am Freitag werden die Geschäftsleute im Dorf ihre Schaufenster schwarz verhängen. Und zusammen demonstrieren. Zwei Tage vor den Präsidentschaftswahlen ist die Operation „Totes Dorf“ die Vorwegnahme einer düsteren Zukunft. Die Region hat mehr als 16 Prozent Arbeitslose – fast doppelt so viele wie im landesweiten Durchschnitt. Über die Wahlen selbst diskutiert im Dorf kaum jemand. Manche wollen sie boykottieren. Andere durchsuchen die Programme der Kandidaten nach Vorschlägen, wie Massenentlassungen zu verhindern wären. „Wir brauchen ein Gesetz, das die Abwanderung französischer Unternehmens ins Ausland verhindert“, sagen die Salzarbeiter. Keiner der drei Kandidaten aus der Mitte schlägt derlei vor.

In der Camargue steht der Reis schon ein paar Zentimeter hoch. Die Weinreben sprießen. Die Apfelbäume blühen. In wenigen Tagen werden auch wieder Mücken aus den Sümpfen aufsteigen. Die Salzarbeiter wissen nicht, ob sie in diesem Sommer überhaupt noch ernten werden. 1998 haben sie akzeptiert, dass ihre Arbeitszeit von 39 auf 34 Stunden verkürzt wird: „À la carte.“ Seither teilt die Direktion ihnen mittwochs mit, wann und wie lange sie in der kommenden Woche im Salz sein müssen. Mal sind es 24 Stunden, mal 52. Immer ohne Überstundenbezahlung. Nur die Jahresarbeitszeit zählt.

Der Betriebsrat hat damals die Arbeitszeit- und Lohnkürzung akzeptiert. Um vier Arbeitsplätze zu retten. Zugleich wurden 50 Kollegen entlassen. Rückblickend ein Irrtum für Betriebsratschef Raouti Zenasni. „Wenn man Lohnsenkungen akzeptiert, führt das über kurz oder lang zur Betriebsschließung“, sagt er. Dieses Mal lehnt er Kündigungen kategorisch ab. Stattdessen schwebt ihm ein Vorruhestandsplan vor, der das Problem binnen vier Jahren lösen könnte. Ein „junger Rentner“, so Raouti Zenasni, „ist immer noch besser als ein alter Arbeitsloser.“

Der für Salin-de-Giraud zuständige Vizebürgermeister Philippe Martinez, 40, nennt die Arbeiter „Opfer eines Liberalismus, der nur nach Profiten guckt“. Er prophezeit „Dramen, wenn die Fabrik zumacht“. Die Zukunft hier sieht er im „grünen Tourismus“ in der Camargue: „Schließlich haben wir hier die 25 jungfräulichsten Strandkilometer zwischen Gibraltar und Sizilien.“ Aber an der Salzproduktion will er festhalten. Wegen der Arbeitsplätze. Und weil ohne die Meerwasserumleitung die einmalige Fauna und Flora des Feuchtgebiets im Rhônedelta eingehen würde. Er schlägt vor, dass der Küstenschutzbund erst dann Gelände aufkauft, wenn das Unternehmen den Salins-du-Midi Beschäftigungsgarantien gibt. „Ohne das“, so Martinez, „würde gerade der Staat durch Landaufkauf die Auslagerung fördern und neue Arbeitslose schaffen.“

Für Investoren liegt die Zukunft längst auf der anderen Seite des Mittelmeers. Die Bank von Tunesien empfiehlt das Unternehmen Cotusal – die tunesische Tochter der Salins-du-Midi – wegen der „guten Dividenden“ als Anlage. Zwei Standorte in Tunesien sind exportorientiert, darunter die erst 1997 eröffneten Salinen in Zarzis. Ihr Hauptprodukt garantiert den nächsten Konflikt mit der Camargue: Streusalz für Nordeuropas verschneite Straßen.

In Salin-de-Giraud wünscht Salzarbeiter Nicolas Mavroulis dem nächsten französischen Präsidenten „viel Glück“. Er meint das sarkastisch. „Wenn heute nichts unternommen wird, um die Abwanderung von Unternehmen zu stoppen, wird Frankreich ein Land von Armen“, sagt er, „dann brauchen wir bald humanitäre Hilfe von außerhalb.“