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Archiv-Artikel

Karlsruhe befindet: Drängeln ist Gewalt

Selbst bei langsamer Geschwindigkeit im Stadtverkehr kann dichtes Auffahren und giftiges Hupen strafbar sein

FREIBURG taz ■ Drängelnde Autofahrer können wegen Nötigung verurteilt werden. Dies hat gestern eine Kammer des Bundesverfassungsgerichts entschieden. Das dichte Auffahren kann selbst bei geringen Geschwindigkeiten in der Stadt als „Gewalt“ bewertet werden.

Geklagt hatte ein Autofahrer aus Nordrhein-Westfalen. Er war innerorts über eine Strecke von 300 Metern bei einer Geschwindigkeit von 40 bis 50 Stundenkilometern auf seinen Vordermann dicht aufgefahren. Mit Lichthupe und Hupe versuchte er, das vordere Fahrzeug zu schnellerem Fahren oder einer Freigabe der Fahrbahn zu veranlassen. Der Mann wurde deshalb zu einer Geldstrafe verurteilt – wegen versuchter Nötigung.

Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügte der Autofahrer, dass es ziemlich „gekünstelt“ sei, das dichte Auffahren im Straßenverkehr als Gewalt zu werten. Wenn der Gewaltbegriff zu sehr ausgeweitet werde, so die Argumentation der Klägers, könne der Bürger nicht mehr erkennen, wo die Grenze zwischen strafloser Belästigung und strafbarer Nötigung liege.

Das Bundesverfassungsgericht lehnte nun aber die Klage ab und erklärte es durchaus für möglich, drängelndes Auffahren als Gewalt einzustufen, mit der andere Autofahrer genötigt werden. Die komplizierte Begründung zeigt allerdings, wie unübersichtlich das Strafrecht an diesem Punkt ist.

Als „körperliche Kraftentfaltung“ könne man schon das „Betätigen des Gaspedals“ sehen, befanden die Verfassungsrichter. Oder man stelle auf die „dynamische Bewegung des Kraftfahrzeugs“ ab. Auf die Geschwindigkeit komme es dabei nicht an, weshalb auch eine Nötigung bei relativ langsamer Fahrt in der Innenstadt möglich sei. Hinzukommen muss aber noch eine „physisch merkbare Angstreaktion“ im vorderen Wagen, gemeint sind wohl Schweißausbrüche oder Nervenflattern. Angst ohne körperliche Reaktion genüge jedenfalls nicht. Auch den Richtern ist klar, dass der drängelnde Hintermann schlecht wissen kann, ob der Fahrer vor ihm nun lediglich Angst oder auch Schweißausbrüche bekommt. Sie halten ihre Auslegung des Nötigungsparagrafen dennoch für bestimmt genug: „Bei bedrängender Fahrweise muss ein Fahrzeugführer grundsätzlich damit rechnen, dass sein Verhalten zu Furchtreaktionen anderer Verkehrsteilnehmer führen kann.“

Für Autofahrer ist wichtig, dass es letztlich immer auf die Umstände des Einzelfalls ankommt. Zu beachten ist: Wie lange und wie intensiv wurde aufgefahren? Wie war die jeweilige Verkehrssituation? Hat der Drängler gehupt und die Lichthupe betätigt?

Die Auslegung des Gewaltbegriffs beim Straftatbestand der Nötigung ist schon seit Jahrzehnten umstritten. Im Jahr 1995 hatte das Verfassungsgericht entschieden, dass Sitzblockaden von Demonstranten keine Gewalt sind. Allerdings, so eine Entscheidung aus dem Jahr 2001, ist das Anbringen eines Schlosses, mit dem sich Demonstranten an Bahnschienen anketten, wieder Gewalt (Az.: 2 BvR 932/06).

CHRISTIAN RATH