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Archiv-Artikel

Die Krähe

KURZGESCHICHTE Franz findet eine tote Krähe. Als er sie beerdigen will, kommen Erinnerungen an seinen Vater hoch. Der spielte oft die Mundharmonika

Jens Eisel

■ 34, ist Autor und lebt in Hamburg. Nach einer Schlosserausbildung arbeitete er unter anderem als Lagerarbeiter, Hausmeister und Pfleger. Er studierte am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig und war 2013 Finalist beim Literaturpreis Prenzlauer Berg. Mit seiner Story „Glück“ gewann er im selben Jahr den Open Mike.

Franz war an jenem Abend durch ein paar Kneipen gezogen. Er war in Läden gewesen, die er schon lange nicht mehr betreten hatte, und jetzt steuerte er seinen alten Lieferwagen durch die Nacht. Es war kurz nach zwei, die Straße lag dunkel vor ihm, und die Scheinwerfer strahlten in den Regen. Er war nicht betrunken, aber er spürte den Alkohol, und während er den Wagen an den flachen Lagerhallen vorbeilenkte, hörte er sein Werkzeug im Laderaum scheppern. Nachts wirkte die Gegend wie ausgestorben, die wenigen Laternen erhellten die Straße nur spärlich, und in keinem der Gebäude brannte Licht. Franz schaltete herunter und bog in eine schmale, gepflasterte Straße ein, dann sah er auch schon die LKWs.

Sein Wohnwagen stand auf dem Gelände einer Spedition, direkt an einem Kanal. Er fuhr auf den großen Hinterhof und schaltete den Motor ab. Das Licht auf dem Platz war trüb. Franz blickte aus dem Fenster, aber er sah nur Nebel und die dunklen Silhouetten blattloser Bäume. An klaren Tagen sah er von hier aus die Köhlbrandbrücke und die Lichter vom Hafen, aber im Herbst, wenn es regnete und neblig war, konnte er von seinem Wohnwagen aus nicht einmal die LKWs erkennen. Als er ausstieg, hörte er in der Ferne einen Hund bellen. Er hustete und lief über den Kies zu seinem Wohnwagen. Er war nur noch wenige Meter von der Tür entfernt, als er vor einem der LKWs etwas entdeckte. Zuerst dachte er, es wäre ein Kleidungsstück, aber als er näher trat, sah er, dass es eine tote Krähe war. Sie musste gegen die große Scheibe des Führerhauses geflogen sein. Einer der Flügel war seltsam abgeknickt, sie lag auf dem Rücken, und trotzdem verstrahlte sie noch immer etwas Lebendiges. Franz ging in die Hocke. Er hatte noch nie eine Krähe aus der Nähe betrachtet, und jetzt, wo er sich den Vogel genau besah, fiel ihm die Schönheit auf, der leicht geschwungene Schnabel, das dichte, dunkle Gefieder. Er hatte vor Jahren mal gelesen, dass Krähen zu den intelligentesten Tieren gehörten, dass sie sogar in der Lage waren, sich in Artgenossen hineinzuversetzen.

Franz blickte erneut zu dem LKW, aber weder die Scheibe noch der Lack waren beschädigt. Als er den Vogel berührte, spürte er noch immer etwas Körperwärme. Vielleicht hatte sich die Krähe vor seinem Transporter erschrocken und war in Panik gegen das Führerhaus geflogen. Die Tatsache, dass das Herz des Vogels noch vor ein paar Minuten geschlagen hatte, stimmte ihn traurig. Er hob den Körper vorsichtig hoch und trug ihn zu einer Kiefer, die am Rand des Parkplatzes stand und deren Äste über den Kanal hingen. Vom Wasser her wehte ein kühler Wind. Der Regen hatte nachgelassen, aber die Feuchtigkeit glänzte im Dunkeln. Franz legte den Vogel neben den Stamm und ging zu dem kleinen Werkzeugschuppen. Er öffnete die Tür. Das Licht war schon seit Jahren kaputt, und er tastete sich durch den dunklen Raum.

Die Erde war locker, und während er das Loch aushob, dachte er an seinen Vater. Es war das erste Mal seit langer Zeit, und er wusste nicht, warum er gerade jetzt an ihn denken musste. Er hatte ihn sehr gemocht. Er war gestorben, als Franz sechzehn war. Seine Mutter lebte noch, sie wohnte in einem Pflegeheim, und wenn er sie besuchte, erkannte sie ihn nicht. Manchmal sprach sie ihn mit dem Namen seines Vaters an, aber meistens saß sie stumm in dem großen Sessel, der schon in ihrer Wohnung gestanden hatte. Sie saß dort und blickte aus dem Fenster auf den Parkplatz eines Supermarktes.

Franz legte den Vogel in das Loch und bedeckte ihn vorsichtig mit Erde. Er lehnte die Schaufel gegen den Baum und legte einen großen Kieselstein auf das Grab. Für einen kurzen Moment blieb er stehen, dann lief er um den Wohnwagen, zu einer Holzbank, von der man auf den Kanal blicken konnte. Im Sommer hatte er hier hin und wieder geangelt, aber er hatte nie etwas gefangen. Franz zog den Reißverschluss seiner Jacke zu und setzte sich. Er spürte die Feuchtigkeit durch den Stoff seiner Arbeitshose. Tagsüber herrschte auf dem Hof geschäftiges Treiben, aber nachts war es vollkommen still. Er wohnte seit ein paar Jahren in dem alten Wohnwagen, und in diesem Jahr hatte er hier sogar ein paar Tomaten gezüchtet. Die Töpfe standen noch neben dem Schuppen, aber die Pflanzen waren verdorrt. Er blickte über den Kanal zu einem kleinen, weißen Gebäude auf der anderen Seite. In dem mit Wellblech gedeckten Schuppen wohnte sein einziger Nachbar. Sie hatten in den Jahren nur ein paarmal miteinander gesprochen, aber wenn sie mit ihren Autos aneinander vorbeifuhren, grüßten sie sich. Und wenn er abends auf der Bank saß, sah er manchmal den Glutpunkt einer Zigarette, der sich wie ein Glühwürmchen auf und ab bewegte.

Franz betrat den Wohnwagen. Er schaltete das Licht an und betätigte die Gasheizung, dann nahm er ein Bier aus der Kühlbox und setzte sich an den kleinen Tisch. Er drehte das Radio auf und öffnete die Flasche. In ein paar Stunden musste er wieder aufstehen. Franz verdiente sein Geld mit allen möglichen Reparaturen in den Kneipen um die Reeperbahn. Er wechselte schadhafte Kacheln aus, kümmerte sich um verstopfte Waschbecken und defekte Wasserhähne. Er reparierte kaputte Türen. Er machte das schon seit einiger Zeit, und er konnte sich vor Aufträgen kaum noch retten, aber die Arbeit fiel ihm nicht mehr so leicht wie früher.

Allmählich wurde es warm. Franz zog seine Jacke aus. Er trank einen Schluck Bier, und dann dachte er an die Mundharmonika. Sie lag in einem der Schränke, er hatte sie seit Jahren nicht mehr herausgeholt.

Er nahm die Schachtel aus dem Schrank, legte sie vor sich und schaltete das Radio ab. Sein Vater hatte ihm beigebracht, wie man das Instrument spielte. Sie hatten oft bis spät in der Küche gesessen, und sein Vater hatte ihm Geschichten erzählt. Franz sah die Augen seines Vaters vor sich, sie waren blau und schienen oft glasig. Jetzt erinnerte er sich auch an eine Geschichte von einem verirrten Wanderer, dem eine Krähe den richtigen Weg wies.

Die ersten Töne klangen etwas unbeholfen, aber nach ein paar Minuten kamen sie wie von selbst, und er spielte alle Lieder, die er kannte. Er streifte seine Schuhe ab und öffnete ein weiteres Bier, und er begann wieder von vorn. Er spielte mit geschlossenen Augen, und wenn ein Lied zu Ende war, machte er eine kurze Pause.

Franz lag im Dunkeln, aber durch das Fenster fiel etwas Licht, und er sah die Umrisse der Möbel. Er hatte den Wohnwagen seit Jahren nicht mehr bewegt, und trotzdem war er sich sicher, dass man ihn noch ziehen konnte. Er hörte, wie der Regen ungleichmäßig auf das Dach trommelte, und er stellte sich den Wohnwagen auf der Autobahn vor – an einem kleinen Fluss irgendwo in den Bergen. Er überlegte, wann er Hamburg das letzte Mal verlassen hatte und was ihn eigentlich noch hier hielt. Als Franz schließlich einschlief, ging draußen die Sonne auf. Die ersten Möwen kreischten, und die Äste der Kiefer bewegten sich im Wind.Dies ist eine Kurzgeschichte aus Jens Eisels Buch „Hafenlichter. Stories“, erschienen im September 2014 beim Piper Verlag, München, 144 Seiten Jens Eisel liest am 16. Oktober im Hamburger Buchladen Cohen & Dobernigg, Sternstraße 4