: Radio rückwärts
Am Brandenburger Tor formen die Medienkünstler des Projekts Ligna aus hundert Passanten eine Ballettgruppe
Gerade haben hier noch Greenpeace-Aktivisten Glühbirnen mit einer Dampfwalze platt gefahren. Jetzt ruft eine Gruppe armenischer Protestanten ihre Forderungen zwischen Polizeiwagen, Reisebussen und Velotaxen durch. Währenddessen hat sich in der Mitte des Pariser Platzes das Gespann eines Huskyschlittens so hoffnungslos verheddert, dass die Hunde um die Wette jaulen.
Dass sich nun auch noch Menschen mit kleinen Kopfhörern im Ohr und bunten Plastiktüten in der Hand in das Durcheinander mischen, fällt da kaum auf. Erst als die hundert vermeintlichen Passanten alle auf einmal beginnen, sich langsam im Kreis zu drehen, dann in die Hocke zu gehen und am kalten Pflaster zu lauschen, um anschließend johlend in die Luft zu springen, blickt doch der eine oder andere Tourist für einen Moment aus seinem Reiseführer auf. Radioballett nennt sich die Darbietung. Mitmachen kann jeder, der in der Akademie der Künste seinen Personalausweis gegen ein kleines tragbares Radio eingetauscht hat. Und was für die irritierten Touristen so aussieht, als wäre es eine von Zauberhand geleitete Choreografie, folgt in Wirklichkeit den Anweisungen, die jeder der Teilnehmer des Radioballetts über die Kopfhörer der Geräte empfängt.
Initiiert haben dieses skurrile Tanzvergnügen drei Radiomacher aus Hamburg, die im Rahmen der Woche des Hörspiels, die in der Akademie der Künste stattfindet und noch bis zum 29. April dauert, nach Berlin eingeladen worden sind. Seit fast zehn Jahren arbeiten Ole Frahm, Michael Hüners und Torsten Michaelsen unter dem Label Ligna zusammen. Mit ihren Projekten wollen sie zeigen, dass das Radio mehr als ein Berieselungsapparat ist. Jeder soll am eigenen Leib spüren, wie man mit diesem Medium die Massen in Bewegung setzen und es zugleich als Kunstapparat und Performancemaschine nutzen kann.
Im Unterschied zu den als „Flashmobs“ bekannt gewordenen spontanen Massenzusammenkünften in öffentlichen Räumen, die per SMS oder Internet organisiert werden und die vor ein paar Jahren zum trendigen Großstadtsport avanciert sind, sind die Ligna-Macher allerdings nicht nur auf den Eventfaktor aus. In ihren Eroberungen des öffentlichen Raums geht es stattdessen um eine kritische Auseinandersetzung mit den jeweiligen Orten. Die will man nämlich so bespielen, dass sie sich in der Wahrnehmung der Teilnehmer und Beobachter ganz und gar verwandeln.
Das kann schon mal für Unmut sorgen. Als vor fünf Jahren dreihundert Radioballetttänzer im Hamburger Hauptbahnhof aufkreuzten und den Reisenden im gleichen Moment ihre bettelnden Hände unter die Nase hielten, fanden die Verantwortlichen der Bahn das nur begrenzt witzig und reichten Klage gegen unerlaubtes massenhaftes Radiohören und Balletttanzen in ihren Hallen ein.
So viel Aufsehen erregen die Balletttänzer vor dem Brandenburger Tor an diesem reichlich kühlen Frühlingsnachmittag nicht. Auch weil die Performance diesmal nicht das Elend der Gegenwart, sondern die Vergangenheit im Blick hat. Und während sich die Performance-Gruppe auf Befehl rückwärts in Richtung Brandenburger Tor bewegt und dabei Sand auf den Boden streut, werden über Kopfhörer ein paar historische Zusatzinformationen eingespeist. So erfährt man von der freundlichen Stimme, dass auf den Tag genau vor 68 Jahren deutsche Truppen in entgegengesetzter Richtung durch das Tor marschiert sind und damit den symbolischen Auftakt zu einem der finstersten Kapitel deutscher Geschichte inszenierten.
So wollen die Ligna-Macher diesmal nicht die gewohnten Abläufe stören oder die Regeln des Raums durchbrechen. Sie wollen unter dem Hörerkollektiv eine Art spielerischer Aufklärung in Gang setzen. Die ist aber nicht nur manchen der Ballettakteure ein wenig zu meditativ. So wartet man ungeduldig darauf, dass die Radiologen die Regler hochfahren, damit nach dem ganzen aufklärenden Schreiten und Streuen der Platz dann doch noch ein bisschen gerockt werden darf. Und dann kommt es endlich: „Song two“ von Blur und hundert tanzende Menschen. Das verwandelt wirklich den Raum. Da scheint es, als jaulten die Hunde im Takt, als tanzten die Armenier zum Elektrosound.
WIEBKE POROMBKA