: Ich kann den Wachtturm nicht mehr seh’n
Wenn der Bibelforscher zweimal klingelt, mache ich von meinem Zeugenverweigerungsrecht Gebrauch
Letztens hab ich eine alte Bekannte im Treppenhaus getroffen. Jedenfalls hat sie gesagt, wir seien entfernt altbekannt, wir seien doch auf demselben Gymnasium gewesen. Sie wirkte auch ganz sympathisch, aber dann meinte sie, sie habe mit ihrer Begleiterin eh grad zu mir gewollt, und frug nun, da ich gerade am Gehen war, ob sie mir „was zum Lesen“ dalassen dürfe. Mir war‘s gleich klar: Freichristen. Praktisch permanent geben mir in München Freichristen Zettel in die Hand. Doch es war schlimmer noch.
Sie waren Zeugen Jehovas. Und Zeugen Jehovas … man will ja niemandem in seiner religiösen Überzeugung zu nahe treten, aber die Zeugen Jehovas … ich sag’s so: Mir fehlt da jeglicher Zugang und ich möchte auch gar nie keinen nicht haben. Ich muss aufpassen, dass ich jetzt nicht aus Versehen doppelte Verneinung mache, die ja im Bayerischen als Verstärkung der einfachen gilt, aber im Hochdeutschen auf eine Bejahung hinausläuft. Drum hab ich vorsichtshalber dreimal verneint, weil: die Zeugen Jehovas sind hartnäckig. Die sind wie die Flatrate- und Versicherungsanbieter am Telefon, und wenn die das lesen, sagen die: „Schau, er kann es sich nur noch nicht eingestehen, aber unterbewusst sucht er unsere Gemeinschaft, das Lamm, das verlorene.“ Und packen ihre Heftln ein und machen sich wieder auf, an meine Tür zu klopfen.
Früher, wenn die „Bibelforscher“ – so nannte sie meine Oma – kamen, haben wir sie schon von weitem gesehen, was praktisch war. Sie kamen immer zu Fuß, obwohl unser Bauernhof ein Stück außerhalb des Dorfes liegt, zwei Gestalten in fahlen Mänteln. Meine Oma und meine Mutter müssen dem theologischen Diskurs irgendwie auch abgeneigt oder zumindest nicht scharf auf die neuesten Forschungsergebnisse gewesen sein; wenn sie jedenfalls aus dem Küchenfenster sahen: „Das sind die Bibelforscher!“, wurde schon mal abgetaucht und so getan, als sei niemand zu Hause. Dann legten die Bibelforscher was zum Lesen vor die Tür und stapften weiter die Landstraße entlang. Jetzt, wo ich drüber nachdenke, frag ich mich: Dürfen die Autofahren auch nicht? Na, egal.
Und neulich hat’s mich erwischt. Da standen sie, mit so weißen Daunenmänteln, wie DSV-Schifahrerinnen bei den Interviews nach dem Wettkampf, und außerdem musste ich an die zwei Hanni-und-Nanni-Damen von ©Tom denken und erwartete halb, jetzt müsste gleich was Lustiges passieren. Passierte aber nicht, sondern es war nur unangenehm. Ich machte, so dezidiert mir das möglich war, weil ich irgendwie nicht barsch sein kann zu jemandem, der recht sympathisch wirkt, eine Frau ist, mich in meinem Heimatidiom mit „Sepp“ anspricht und auf unsere gemeinsame Schulzeit anspielt – ich machte also nach Kräften deutlich, dass ich absolut gar nie kein Interesse nicht habe an dem Jehovas-Zeug. Worauf sie mild nachsetzte, ich habe wohl schon meinen eigenen Weg gefunden, offensichtlich in der perfiden Hoffnung, ich würde daraufhin ins Straucheln geraten – die ich natürlich postwendend erfüllte. Ich weiß, dass mich die Anwort „äh, ja, äh, meinen eigenen Weg, so“ nicht gerade als spirituell geerdeten Quasi-Buddha auswies. Aber wenn Sie mich fragen, sind die ja auch direkt ausgebildet, solche Antworten aus einem rauszuholen! Damit sie wiederkommen können! Am Ende ließ ich mir wieder „was zum Lesen“ geben und lief schreiend davon; na gut: Ich machte die Tür zu.
P.S.: Heute lag ein „Erwachet!“ im Postkasten mit einer Kugelschreiberbotschaft auf dem Titelblatt. Sie verabschiedet sich, weil sie jetzt „für ein Jahr nach Paraguay auswandert“. Wo sie in der dortigen deutschsprachigen Community die Mission weiterführen wird, schreibt sie. Y!E!S!
P.P.S.: Kennen Sie den ©Tom, es ist ein sehr früher, glaub ich: Eine säuerlich blickende Zeugin Jehovas steht in der Fußgängerzone und hält ein „Erwachet!“-Heft hoch. Daneben steht grinsend ein untersetzter Mann und hält ein Täfelchen, auf dem steht: „Nur noch ein Viertelstündchen“. Genau. Nur noch ein Viertelstündchen. Dann geh ich los und suche meinen Weg. Nein, wirklich.
JOSEF WINKLER
ZEITSCHLEIFEFragen zum Nein? kolumne@taz.de Morgen: Stefan Kuzmany ist GONZO