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Archiv-Artikel

Vom Störer zum Vorbild

An der Essener Traugott-Weise-Schule arbeiten lernbehinderte SchülerInnen in altersgemischten Gruppen zusammen. Lehrer: In Familienklassen bilden sich funktionierende soziale Strukturen heraus

Seit Matthias nicht mehr Außenseiter, sondern Vorbild ist, hat sich sein Verhalten geändert

VON LUTZ DEBUS

Kim spielt Saxophon. Ihr Instrument ist zwar nur aus golden angemalter Wellpappe, aber sie bewegt sich wie eine routinierte Jazzerin. Die etwas korpulente 19-Jährige ist die Älteste auf der Bühne der Schulaula. Um sie herum springen, tanzen und singen noch gut zehn weitere Schülerinnen und Schüler. Jungs, gerade mal dem Kindergartenalter entwachsen, machen genau so wie fast Erwachsene ihre rockigen Sprünge. Beim Finale des Schmalztollen- und Pettycoat-Musicals „Grease“ geben alle noch mal alles. Die Scheinwerfer flackern. Der Gesang indes klingt nicht ganz so wie im Original. Als würden sie eine fremde Sprache sprechen, benutzen die Akteure fast nur Vokale.

Alle Mitwirkenden gehen zur Traugott-Weise-Schule. In dem umgebauten Klinikgebäude in einem nördlichen Stadtteil von Essen ist die Sonderschule für geistig Behinderte untergebracht. Nicht nur bei der Aufführung eines Musicals, auch im Schulalltag arbeiten die Schülerinnen und Schüler in altersgemischten Gruppen, in so genannten Familienklassen. Dieses Konzept, so erklärt Oliver Spesser, werde in NRW bislang selten verfolgt. Genaue Zahlen über die Verbreitung dieser Art der Unterrichtsorganisation gebe es nicht. „Wahrscheinlich haben einige Sonderschulen inzwischen Familienklassen, treten damit aber nicht so offensiv in der Öffentlichkeit auf wie wir.“ Der Lehrer ist von dem Modell begeistert. „Viele Probleme, die wir früher hatten, haben wir durch die Familienklassen gelöst.“ Jede Altersklasse in einer Sonderschule für geistig Behinderte habe besondere Eigenheiten, die, wenn sie geballt auftreten, das Unterrichten erschweren. In der Unterstufe, so Spessers Einschätzung, sind viele Kinder besonders quirlig und aufgedreht. Ruhe sei im Klassenraum äußerst selten gewährleistet. In der Mittelstufe ballen sich die emotionalen Ausbrüche. „Stichwort Pubertät“, lächelt der Lehrer. Zusätzlich bringen die Seiteneinsteiger, neu aufgenommene Schüler von Sonderschulen für Lernbehinderte, zusätzlich Unruhe in die Klassen. Diese müssten zunächst oft den Frust über die schulische „Herabstufung“ verarbeiten, bevor sie sich auf das Unterrichtsgeschehen einlassen könnten. Erst in der Oberstufe beruhige sich die Situation in den Klassenräumen. „Manchmal ist es dann sogar zu ruhig“, seufzt Oliver Spesser. Die 16- bis 19-jährigen Schülerinnen und Schüler hätten sich dann oft mit ihrer Situation abgefunden. „Oft genießen sie dann die verhältnismäßig stressfreie und behütete Zeit, bevor sie in einer Werkstatt für Behinderte anfangen.“ Aber Ruhe und Lethargie seinen dann manchmal schwer zu unterscheiden.

Erschwerend kommt bei den altersmäßig homogenen Klassen hinzu, dass die Kinder unter sehr unterschiedlichen Behinderungen und Störungen leiden, die nicht zwangsläufig miteinander harmonieren. Lehrerin Susanne Heinemann schildert den Schulalltag vor Einführung der Familienklassen. „In meiner Klasse waren drei Autisten, zwei Schwererziehbare, zwei Körperbehinderte. Wer nur geistig behindert war, ging unter.“ Die 43-jährige Pädagogin bezeichnet eine Klasse mit dieser Zusammenstellung als „nicht unterrichtbar“. Nun, in der Familienklasse, hätten sich funktionierende soziale Strukturen gebildet. Der 18-jährige Matthias ist für viele in der Klasse das große Vorbild. Bei den Musikaufführungen spielt er Trompete. „Und zwar keine aus Pappe“, bemerkt der schlaksige Junge stolz. Zum Beweis bläst er ein paar Takte aus dem Musical. Als er zwölf Jahre alt war, erzählt Oliver Spesser, galt der Junge als „unerziehbar“. Wegen der vielen Prügeleien, in die er verwickelt war, flog er von der Sonderschule für Lernbehinderte. „Matthias ist einer der Jungs, deretwegen wir die Familienklasse eingeführt haben“, sagt Spesser. Seit er nicht mehr Außenseiter, sondern Vorbild ist, hat sich sein Verhalten völlig verändert. Gern hilft er den jüngeren und schwächeren MitschülerInnen. So auch dem 15-jährigen Simon. Der kam aus einer der ununterrichtbaren Klassen, war unmotiviert und unterfordert. Nun hat er ein Ziel. Er will so werden wie Matthias. Am besten auch mal Klassensprecher.

Matthias übt gerade mit der achtjährigen Vanessa die nächste Szene des Musicals. Der Junge spielt auf seiner Trompete, während das Mädchen ins Mikro haucht. Spesser: „Auch Vanessa kommt von der Sonderschule für Lernbehinderte. Sie hat einen Förderbedarf in den Bereichen Emotionen und Sozialverhalten.“ In der Praxis bedeute dies, dass Vanessa oft schreit, weint, beißt und kratzt.

Die Fähigkeiten beim Lesen und Schreiben sind, unabhängig vom Alter, an der Traugott-Weise-Schule unterschiedlich ausgeprägt. Während manche Kinder einzelne Buchstaben lernen, kann Matthias die Zeitung lesen und Briefe schreiben. Letztens hat er von seinem Idol Eminem auf E-mail-Anfrage sogar eine Autogrammkarte zugeschickt bekommen. Für Kritiker des deutschen Schulsystems stellt sich mitunter die Frage, warum solche Schüler nicht mit entsprechender Unterstützung in eine Regelschule gehen könnten. Oliver Spesser hat Erfahrungen mit dem „Gemeinsamen Unterricht“ gemacht. Für lernschwache Kinder sei dies bestimmt ein guter Ansatz. „Aber für geistig Behinderte bedeutet dies letztlich unter den momentanen Bedingungen nur, physisch im gleichen Klassenraum zu sein wie die nicht behinderten Kinder.“ Trotzdem könnten sich andere Schulformen an der Traugott-Weise-Schule ein Beispiel nehmen. Familienklassen, so der Pädagoge aus Essen, müssen ja kein Privileg für Sonderschulen bleiben. Ob Eltern von Gymnasiasten von diesem Modell so angetan wären wie die Mütter und Väter der SchülerInnen der Traugott-Weise-Schule, darf dabei bezweifelt werden.