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Archiv-Artikel

„Das würde heute nicht mehr klappen“

BOAT PEOPLE Ende der 70er Jahre nahm Niedersachsen 1.000 vietnamesische Boot-Flüchtlinge auf. Jens-Erwin Siemssen hat mit der Gruppe Das Letzte Kleinod aus der Begebenheit ein Theaterstück gemacht

Jens-Erwin Siemssen

■ 47, studierte in Stuttgart und Amsterdam und gründete 1991 das Theater Das Letzte Kleinod, das Orte und ihre Geschichten inszeniert. Schauplätze waren unter anderem eine Insel und ein Tiefkühlhaus.   Foto: Melanie Pieper

taz: Herr Siemssen, im Jahr 1978 nahm Niedersachsen 1.000 Vietnamesen auf, die vor den Vietcong per Schiff flüchteten. Entscheidend dafür waren die TV-Bilder von den Menschen auf dem schrottreifen Frachter „Hai Hong“.

Jens-Erwin Siemssen: Niedersachsen hat damals nicht nur Flüchtlinge von der „Hai Hong“ aufgenommen, sondern auch viele kleine versprengte Gruppen. Für das Stück „Boat People“ habe ich nach den Flüchtlingen gesucht, die mit den kleinen Booten illegal ausgewandert sind. Davon habe ich einige getroffen und konnte ihren Weg von Vietnam über Kuala Lumpur, Hannover Langenhagen, Friedland, Norddeich nach Cuxhaven zurückverfolgen.

Wie muss man sich die Reise vorstellen?

Die Flüchtlinge sind über die Mangroven-Sümpfe auf das südchinesische Meer gefahren, auf der Suche nach einem Land, das sie aufnimmt. Das waren meistens Freizeitkapitäne. Auf ihrer Fahrt wurden sie zum Beispiel vom malaysischen Militär beschossen oder von thailändischen Fischern ausgeraubt. Bis sie europäische Schiffe getroffen haben und aufgrund des großen öffentlichen Drucks gesagt wurde: „Wir nehmen die auf.“

Wie haben Sie daraus ein Theaterstück gemacht?

Ich habe 20 Interviews geführt und die Geschichten verteilt auf vier Vietnamesen und eine Deutsche. Es gibt zwei Handlungsstränge. Ich erzähle die Geschichte von der Vorbereitung der Flucht und der Flucht an sich – dafür habe ich unter anderem mit zwei Familien, die damals in Cuxhaven angekommen sind, gesprochen. Die zweite Erzählebene reflektiert, wie es für die Deutschen war, als sie die Vietnamesen in Empfang genommen haben.

Wie haben Sie die Perspektive der Deutschen recherchiert?

Ich habe Interviews geführt mit dem Leiter eines Sozialamtes, dem Leiter eines Flüchtlingsheimes, einem Kapitän und mit einem Ehepaar, das damals als Patenfamilie die Flüchtlinge in Cuxhaven betreut hat. Es gab das System, dass jeweils eine vietnamesische Familie eine Cuxhavener Familie als Patenfamilie bekam, die dafür sorgte, dass der Einstieg ins neue Leben funktioniert. Das war eine ganz großartige Idee. Das würde heute so nicht mehr klappen.

Warum?

Ich glaube, die Menschen sind zu abgestumpft. Man macht Sommerurlaub in Thailand oder fliegt zum Tauchen auf die Malediven. Diese Reiseerfahrung und das Internet gab es früher noch nicht. Früher war es etwas ganz Besonderes, Leute aus einem fremden Kontinent bei sich zu Gast zu haben. Da sind natürlich auch Kulturen aufeinandergeprallt und das ist das, was mich an dieser Geschichte reizt.

Haben Sie ein Beispiel?

Das Essen natürlich. Wenn die Patenfamilien Brötchen auftischten, war das für die Vietnamesen ungewöhnlich. Oder der Schnee. Da hat man den Vietnamesen erzählt: „Das geht bald vorbei.“ Und dann kam ausgerechnet die Schneekatastrophe von 1979.

Was denken Sie, wenn Sie die aktuellen Bilder von Flüchtlingen sehen, die per Boot nach Europa kommen?

Denen geht es bei ihrer Flucht natürlich nicht anders. Die Leute haben ein Martyrium hinter sich. Aber ich glaube nicht, dass eine deutsche Familie heutzutage so einfach eine afrikanische Familie aufnehmen würde. Da ist man mitleidsloser geworden. Man wälzt auch Verantwortung auf die Gesellschaft ab. Früher hat man noch individuell Verantwortung übernommen. INTERVIEW: KLAUS IRLER

„Boat People“: Uraufführung am 26. Mai in der Boots- und Schiffswerft Cuxhaven; weitere Aufführungen in Cuxhaven, Bremerhaven, Holzminden, Norden-Norddeich