: Pflastersteine am Souvenirstand
Ganz schön verdreht, dieser Maianfang: Demonstrationen kreuzen sich, die Polizei verzählt sich bei den Festnahmen, Kommunisten hören wieder seichte Popmusik, und manche Linke finden die vieldiskutierte Prekarisierung gar nicht so übel. Momentaufnahmen von zwei meist friedlichen Tagen
WALPURGISNACHT
18.05 Uhr, Eberswalder Ecke Oderberger Straße: The same procedure as last year. Brandenburger Polizisten filzen die ankommenden Besucher und fragen nach Glasflaschen und „gefährlichen Gegenständen wie Waffen“. Sie sind – wie in den vergangenen Jahren – im Mauerpark verboten. Vereinzelt bilden sich Schlangen, vor allem bei Frauengruppen.
19.52 Uhr, Heinrichplatz: Rund 500 selbsternannte Kommunisten haben sich zur Demo „Reduce to the Maxx – just communism“ versammelt. Sie lauschen dem Lautsprecherwagen, aus dem schönster Elektropop dröhnt: „I’m so excited“ von den Pointer Sisters in einem Remix. Und weiter: „Tonight we will gonna make it happen.“
20.03 Uhr, Heinrichplatz: Mit mehr als einstündiger Verspätung bewegt sich die auf rund 800 Teilnehmer angewachsene Demo Richtung Oberbaumbrücke. Ein Dutzend Polizeiwagen schließen sich dem Zug an. Zuvor hatte der Einsatzleiter verfügt: Keine Seitentransparente, die länger sind als 1,50 Meter.
20.08 Uhr, Mariannenstraße, Ecke Naunynstraße: Ein Anwohner türkischer Herkunft hängt ein Transparent mit dem Konterfei von Che Guevara über seine Balkonreling. Die vorbeiziehenden Demonstranten lässt es kalt. Aus dem Lautsprecher tönt nun Britney Spears.
20.40 Uhr, Mauerpark: Der Himmel über dem Park ist in drei Farben getaucht: Rosa am Horizont, darüber Tiefblau, dann Orange. In das romantische Bild drängt sich ein stetig kreisender Polizeihubschrauber.
21.12 Uhr, Oberbaumbrücke: Eine Polizeikette stoppt die bis dahin friedliche Demo und fordert die Teilnehmer auf, ein Seitentransparent zu beseitigen. Es kommt zu ersten Festnahmen.
21.18 Uhr, Oberbaumbrücke: Ende der dritten Durchsage. Die Einsatzkräfte rüsten zum Angriff. Dabei ist das Seitentransparent längst beseitigt.
21.40 Uhr, Eberswalder Ecke Oderberger Straße: Der Polizeisprecher im „Info-Mobil“wirkt mehr als entspannt: „350 Leute im Park, keine Vorkommnisse, alles ruhig.“ Einige Parkbesucher nutzen die Flutlichtbeleuchtung zum Nacht-Fußballspiel.
21.55 Uhr, Boxhagener Platz: Die erste Demo der Walpurgisnacht endet. Auf dem Platz tanzen rund 1.000 Besucher, darunter viele Punks, zu der schottischen HC-Punkband Oi Polloi. Ihre politische Botschaft: gegen Yuppiesierung und Umstrukturierung.
22.10 Uhr, am Mauerpark: Das RBB-Team filmt den Mond.
22.30 Uhr, Boxhagener Platz: Der Alkoholpegel der rund 1.500 Anwesenden – die meisten davon Jugendliche – ist rapide gestiegen. Die ersten Scharmützel beginnen. Polizeitruppen werden mit Plastikbechern beworfen. Sie antworten mit dem „Konzept der ausgestreckten Faust“ – sprich: sie hauen zu.
23.03 Uhr, Boxhagener Platz: Der Alkoholpegel ist bedrohlich angestiegen – bedrohlich für alle Anwesenden. Immer häufiger kommen Polizeieingreiftruppen zum Einsatz. Knallkörper fliegen. Die Luft riecht nach Pfefferspray. Kurz nach Mitternacht bilanziert die Polizei 68 Festnahmen, 4 weniger als in der Walpurgisnacht im Jahr zuvor. Eine Sprecherin spricht von einem „insgesamt vergleichsweise ruhigen Verlauf“. Am nächsten Tag korrigiert die Polizei ihre Angaben: 119 Personen seien festgenommen worden, so Polizeipräsident Dieter Glietsch.
1. MAI
10.33 Uhr, Kurfürstenstraße: Ein Mann stupst seine Freundin auf der Gewerkschaftsdemo an und zeigt auf ein Grüppchen, das vor ihm Plakate mit der Parole „Lohndumping verboten“ hochhält: „Guck mal, die SPD läuft auch mit – die spinnen ja wohl!“
10.40 Uhr, Kurfürstenstraße: Der IG Metall scheint eine ganz eigene Version des Mindestlohns vorzuschweben. „Für eine bessere Zukunft“, steht auf ihrem Bus, der langsam auf der Gewerkschaftsdemo mitrollt. Aus dem oben draufmontierten Lautsprecher schallt ein Prinzen-Song: „Ich wär so gerne Millionär!“ Ach ja, dann wär das Konto niemals leer …
12.40 Uhr, Adalbertstraße: Entspannte Stimmung auf einem Hinterhof: Auf mitgebrachten Campingstühlen hat es sich eine Polizeieinheit bei Kaffee und Kuchen gemütlich gemacht.
12.55 Uhr, Oranienstraße: Ein Zeitungsverkäufer will einer jungen Demonstrantin seine Zeitschrift verkaufen: „Hier gibt’s die neueste Weltrevolution.“ Ihre Antwort: „’ne ältere würde mir schon reichen.“ Sie kauft nichts.
13.15 Uhr, Oranienplatz: Leicht tautologisch skizziert eine Sprecherin das Demokonzept: „Die Revolutionäre 1.-Mai-Demo zeichnet sich durch ihre revolutionäre Haltung aus.“ Eine daraufhin verlesene Grußbotschaft aus Magdeburg legt die Messlatte hoch: „Gemeinsam werden wir heute den Erdball zum Beben bringen.“
13.30 Uhr, Oranienplatz: Eine Polizeikette hat den Platz abgesperrt, lässt aber alle Leute zur Demo der Maoisten durch. Es gibt keinerlei Vorkontrollen.
13.59 Uhr, Oranienstraße: Eine erste Flasche fliegt – ein Barmixer jongliert an seinem Stand gekonnt mit Shaker und zwei Flaschen.
15.05 Uhr, Naunynstraße: Vor der Hausnummer 36 werden Pflastersteine „original 1. Mai 1987“ verkauft. Preis: 3 Euro das Stück. Auf den mit einer Banderole versehenen Steinen wird ein Sicherheitshinweis erteilt: „Nicht zum Werfen/Randalieren geeignet, da gravierende Sach- und Personenschäden verursacht werden können.“ Eine Handvoll ist schon über den Ladentisch gegangen. Der Jugendladen T.E.K. will damit seine Gruppenkasse aufbessern.
15.09 Uhr, Lausitzer Platz: Die Sängerin Bernadette La Hengst stellt von einem der Bühnenwagen das Motto der Mayday-Parade in Frage. Prekarität sei schließlich ihr Leben, sagt sie. Sie habe schon vor 25 Jahren beschlossen, nie mehr vormittags aufzustehen. Ihren Liedrefrain – „Nie mehr, nie mehr“ – will dennoch im Publikum kaum jemand mitsingen. Offenbar haben viele noch feste Jobs.
15.16 Uhr, Lausitzer Platz: Die Wartezeit für Eis bei „Tanne-B“ beträgt elf Minuten.
15.35 Uhr, Naunynstraße: Großer Andrang vor der Breakdancebühne des Jugendzentrums Naunynritze. 14 B-Boys liefern sich einen Wettkampf. Zwei Rollstuhlfahrer schieben sich durchs Gedränge. Wie beim Autoscooter bumst der eine den anderen von hinten an. „Fahr doch mal schneller, du Idiot.“
15.54 Uhr, Lausitzer Platz: Die Mayday-Parade beginnt mit bis zu 5.000 Teilnehmern. Die Polizei spricht später sogar von 8.000 Demonstranten.
16.00 Uhr, Naunynstraße: Auf einer Bühne in der Straße rappen die Freequencies: „Nimm die Steine aus dem Beet, und ich werfe sie1“, ruft der Sänger ins Mikrofon. „Es gibt auch noch Demos und nicht nur Luftballons zu kaufen. Wer kommt mit?“, fragt er ins 50-köpfige Publikum. Ein Finger hebt sich, dann zaghaft ein zweiter. Das war’s.
16.05 Uhr Skalitzer Straße: Der Mayday-Zug steckt fest. Demostau: Erst muss die 13-Uhr-Demo vorbeiziehen. Von dort dröhnt „Hoch die Internationale Solidarität“ herüber – auf Deutsch und Türkisch.
16.25 Uhr, Waldemarstraße Ecke Leuschner Damm: Ein 36-jähriger Augenoptiker, der zwei Läden sein eigen nennt, schleppt im Rucksack und in Taschen leere Flaschen und Büchsen aus der Festmeile. Letztes Jahr habe er beim 1. Mai auf diese Weise 60 Euro verdient. Dieses Mal, hofft er, wird es noch ein bisschen mehr. „Damit bessere ich mein Taschengeld auf – einer meiner Läden läuft nicht so gut.“
16.30 Uhr, Lausitzer Straße: Von der Reichenberger Straße drängen Autos in die Mayday-Demo. „So geht das ja nicht“, meint ein Veranstalter. „Ich sag mal der Polizei Bescheid.“ Doch weit und breit ist kein Beamter in Sicht.
16.34 Uhr, Lausitzer Straße Ecke Paul-Lincke-Ufer: Wie auf der Demo am Vorabend läuft auch auf dem Mayday-Umzug neben elektronischer Musik viel Pop. Melissa Etheridge und Tina Turner dröhnen aus den Boxen, Punk und Hardcore sind in der linken Szene offenbar out. Dabei sieht die Mayday-Parade ein bisschen aus wie die sommerliche Fuckparade mit ihren vielen kleinen Wagen.
17.00 Uhr, Oranienplatz: Polizeisprecher Bernhard Schodrowski trifft sich mit seinen Leuten. Ob er heute Abend noch zu „Ton Steine Scherben“ geht? „Na logo“, sagt Schodrowski. „Ich will nicht werden, wie mein Alter ist“, habe ihm schon in seiner Jugend gut gefallen, sagt der 1967 Geborene. Daran gehalten hat er sich allerdings nicht. „Mein Vater war auch Polizist.“
17.20 Uhr, Paul-Lincke-Ufer: Die Antiprekariatsparade ist gerade durch. Zwölf Wannen stehen in der Sonne, die Polizisten drängen reihenweise in die Eckkneipe „Maybach“ aufs Klo. Die Kneipe sucht laut Aushang im Fenster „Küchenhilfe, Koch (in Teilzeit) und Praktikanten“.
17.25 Uhr, Skalitzer Ecke Görlitzer Straße: Dort, wo vor knapp zwei Stunden die Mayday-Parade startete, wird jetzt schon für die nächste Demo – die um 18 Uhr starten soll – gerüstet.
17.44 Uhr, Mariannenplatz: Der Platz ist rappelvoll, die türkischen Mütter mit Kopftüchern tragen vor allem Luftballons der Grünen oder vom Frieda-Frauenzentrum an ihren Kinderwagen.
17.45 Uhr, Lausitzer Platz: Die Antifa hat den Längsten: Sie hat ihren 18-Meter-Demo-Truck aufgefahren.
18.07 Uhr, Hermannplatz: Wie im letzten Jahr auch erwartet die Mayday-Demonstranten am Ende ein rund 15 Meter langes Umsonstbuffet. Neben Schokocremetorten gibt es diesmal auch Pizza und Fleischklößchen.
18.15 Uhr, Lausitzer Platz: Die Antifaschistische Linke Berlin beginnt mit ihrer Kundgebung. „Fuck your Gender“ steht auf der Hose der Sprecherin. Passend dazu hat sie sich einen Vollbart gemalt, ihr „männlicher“ Gegenpart trägt Perücke und hat grell geschminkte Lippen.
19.21 Uhr, Oranienplatz: Nicht der Mariannenplatz war blau, sondern der Oranienplatz ist voll – und zwar knüppeldicke. Grund: der Auftritt der Reste von Ton Steine Scherben. Die Leute sitzen in den Bäumen und auf dem BVG-Häuschen. Großes Schunkeln, Johlen und Knutschen bei „Halt dich an deiner Liebe fest“.
19.32 Uhr, Görlitzer Straße: Ganz schön schwarz: Die autonome Antifa hat zum 20. Jahrestag der „Revolutionären 1. Mai“-Demo mehrere tausend dunkel verkleidete Demonstranten mobilisiert – aus der ganzen Republik. Die Veranstalter sprechen von mehr als 10.000 Teilnehmern. Seitentransparente, dunkle Tücher, Baseballcaps, verhüllter Block – was bei der Demo am Vorabend noch zum Stopp geführt hätte, toleriert die Polizei nun.
19.41 Uhr, Görlitzer Ecke Oppelner Straße: Die Demo biegt um die Straßenecke, zwei Skater unterhalten sich. Der eine: „Die sind doch vermummt wie hulle.“ Der andere: „Yoah, ey.“ Der erste: „Geil, Aller.“
19.53 Uhr, Skalitzer Straße, hinterm Spreewaldbad: Bezirksbürgermeister Franz Schulz bewertet den bisherigen Verlauf des Tags als „sehr gut“. Auf die Frage „Ganz schön schwarz, oder?“ antwortet er: „Ich habe auch eine schwarze Jacke an.“
20.20 Uhr, Heinrichplatz: Die „Revolutionäre 1.Mai“-Demo zieht mitten durchs Myfest, die Polizei wird durch die Festordner ersetzt. Viele Demoteilnehmer nutzen die Gelegenheit und vermummen sich. Die Atmosphäre schwankt zwischen Entspannung und Aggressivität.
20.31 Uhr, Oranienplatz: Ton Steine Scherben spielen „Das ist unser Haus“ – und alle singen mit. „Alle“ sind vor allem grauhaarig und nichttürkisch.
20.54 Uhr, Spreewaldplatz: Die Abschlusskundgebung der Demo läuft, mehrere Bands spielen, die Menschen sind friedlich. Es sind kaum Polizisten zu sehen.
21.07 Uhr, Oranienstraße: Feuer am Heinrichplatz. Fünf Flammenwerfer über der Bühne spucken im Rhythmus der Band.
21.15 Uhr, Spreewaldplatz: Eine Band namens Guerilla singt vermummt. Zum Abschluss ruft der Sänger: „Fuck the police!“ Auf die Bemerkung, „die versuchen’s mit allen Mitteln“, sagt ein Polizist: „Immer die gleiche Leier.“
21.18 Uhr, Heinrichplatz: Einige Böller fliegen.
BIS, FLEE, GA, JOH, PLU, TIE, US