: Kennen wir uns?
LEHRE Die Studierendenschaft wird immer heterogener. Darauf reagieren die Hochschulen mit diversen Projekten und Konzepten. Gender und Diversity werden zu relevanten Faktoren im Studienbetrieb
VON LARS KLAASSEN
So bunt wie Berlin sind auch die hiesigen Hochschulen: Beim Anteil ausländischer Studierender liegen sie bundesweit in den Rankings auf den vorderen Rängen. Nicht nur unterschiedliche Herkunft ist ein entscheidender Faktor bei der Frage, wie Lehre erfolgreich gestaltet werden kann. Lebenslanges Lernen ist angesagt: Deshalb sollen die Universitäten sich nun auch verstärkt Quereinsteigern mit anderen Ausbildungen öffnen. Der deutsche „Normalstudent“ mit Abitur und bildungsbürgerlicher Herkunft wird seltener. Von den 2,1 Millionen Studierenden in Deutschland haben bereits heute knapp zehn Prozent ihre Schulzeit ganz oder teilweise im Ausland verbracht, weisen acht Prozent einen Migrationshintergrund auf und sind mehr als 60 Prozent faktisch Teilzeitstudenten, weil sie während der Vorlesungszeit nebenher arbeiten.
Die Initiativen zur Öffnung der Hochschulen und der Wandel Deutschlands zum Einwanderungsland verändern die Zusammensetzung der Studentenschaft deutlich. Hinzu kommen geschlechterspezifische Aspekte: Frauen sollen etwa verstärkt für die bislang männlich dominierten „MINT“-Fächer Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik begeistert werden, weil es dort an Nachwuchs fehlt. So werden Gender und Diversity zu relevanten Faktoren im Studienbetrieb.
Im vergangenen Jahr gründeten 204 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Studierende an der TU Berlin die „Fachgesellschaft Geschlechterstudien/Gender Studies Association“. Zu den Gründungsmitgliedern zählen auch die Zentren für Geschlechterforschung der TU und HU Berlin. Die Fachgesellschaft will die Geschlechterstudien im deutschsprachigen Raum etablieren und weiterentwickeln sowie den inter- und transdisziplinären Austausch fördern. „Schon längst erfüllen die Gender Studies die allgemein anerkannten Kriterien für eine wissenschaftliche Disziplin“, so TU-Professorin Sabine Hark, eine der Mitinitiatorinnen und Organisatorin der Veranstaltung, und sie verweist auf eigene Professuren, eigenständige Studiengänge sowie wissenschaftliche Zeitschriften und Veröffentlichungsorgane. Die Gründung einer Fachgesellschaft sei also ein längst überfälliger Schritt gewesen.
Vom Forschungsobjekt in den Alltag der Lehre bedarf es aber noch weiterer Schritte. „Die Themen Gender und Diversity sind Querschnittsaufgaben der Humboldt-Universität zu Berlin – auch in der Lehre“, betont HU-Sprecherin Constanze Haase. „Ein Beispiel dafür sind die in den Lehramtsstudiengängen verankerten Pflichtmodule ‚Deutsch als Zweitsprache‘.“ Hinzu kommen diverse Unterstützungsangebote im Rahmen des universitären Alltags: So gibt es an der HU unter anderem Beratungseinrichtungen für Studierende mit Behinderungen, mit Kindern und für ausländische Studierende. Die Möglichkeit des Teilzeitstudiums ergänzt diese Angebote. Haase: „So wird es ermöglicht, eine berufliche Tätigkeit, Kinderbetreuung und/oder die Pflege von Familienangehörigen mit dem Studium unter einen Hut zu bekommen.“ Ähnliche Angebote in Form von Beratungen und gesonderten Programmen hat auch die TU Berlin initiiert: So richtet sich „Impetus“ an Studentinnen der MINT-Fächer. „Zielgerade“ wiederum ist etwas weiter gefasst: von der Studienplanung über Weiterbildungsmodule bis zur Vermittlung in bestehende Netzwerke. „Gender und Diversity in alle Studiengänge zu integrieren, steht in den kommenden Jahren noch an“, sagt Heidi Degethoff de Campos, an der TU Berlin für Gender Controlling zuständig.
Hochschulen, die stärker um Studierende werben müssen als die weitbekannten Universitäten der Hauptstadt, sind da in Teilen schon weiter. Der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft hat im vergangenen Jahr vier Universitäten, drei Fachhochschulen und eine Kunst-/Musikhochschule eingeladen, beispielhafte Strategien und Maßnahmen für den produktiven Umgang mit studentischer Vielfalt zu entwickeln. Darunter auch die Fachhochschule Brandenburg. Deren Konzept zielt auf eine zeitliche und organisatorische Flexibilisierung der Studienformate insbesondere für Studierende, die ein berufsbegleitendes Studium absolvieren. So soll ein Mentor den Studierenden als zentraler Ansprechpartner zur Verfügung stehen und mit ihnen gemeinsam eine individuelle, berufsbegleitende Studienverlaufsplanung entwickeln, Tutorien und Vertiefungsveranstaltungen organisieren und durchführen.
Zu den bundesweit großen Vorreitern zählt auch die vergleichsweise kleine Fachhochschule Osnabrück. Dort widmete man sich schon vor Jahren dem Thema: „Am Anfang stellten wir uns die Frage, wer eigentlich die Leute sind, die bei uns studieren“, sagt Barbara Schwarze, Professorin für Gender und Diversity Studies. Das Resultat: „Unsere Studierendenschaft setzt sich zum Beispiel aus sehr unterschiedlichen Altersgruppen zusammen, einige kommen frisch von der Schule, andere haben bereits mehrjährige Berufserfahrungen.“ Ein beträchtlicher Anteil von Nicht-EU-Bürgern bringe ebenfalls eigene Kulturen und Erwartungen mit. Familienstand, Geschlecht oder Behinderung sind weitere Faktoren, die beträchtlichen Einfluss darauf haben können, wer was warum studieren möchte und welche Qualifikationen mitgebracht werden. Nicht nur die Einstiegssituation wurde fokussiert. Eine ebenso relevante Frage lautete: Wie bewältigen die heterogenen Akteure im Vergleich mit der „Normalkohorte“ ihr Studium?
Das sehr facettenreiche Bild mündete vor vier Jahren in einer Erweiterung des Lehrkonzepts. „Dazu wurde zunächst geprüft, inwiefern allen gleichwertige – nicht gleiche – Ressourcen zur Verfügung stehen“, erläutert Schwarze, „Daraus folgte, wie wir die Interessen und Bedürfnisse unterschiedlicher Gruppen in das Studium einbeziehen können.“ Zum einen wurden Gender und Diversity als Querschnittsaufgabe und integraler Bestandteil in den Fächern der Grund- und Hauptstudiengänge verankert. Darüber hinaus hat die FH fachübergreifend zwei Module zu Gender und Diversity eingerichtet.
Im Grundstudium wird nun etwa deutlicher herausgestellt, welche Bedeutung Frauen in der jeweiligen Disziplin haben. „Denn gerade der geringe weibliche Anteil an Studierenden in technischen Fächern verlangt nach neuen Perspektiven“, so Schwarze. „Dazu gehört auch, deutlich zu machen, woher die Fachdisziplin kommt, warum sie im Studium wichtig ist. Interdisziplinäre Bezüge über den inhaltlichen Kern hinaus machen gerade technische Fächer attraktiver für weibliche Studierende.“ So werden etwa Methoden wie Kundenbefragungen aus sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Disziplinen integriert, um technische Produkte zu entwickeln.
Im Hauptstudium wird dieser Ansatz vertieft. Das Wahlfach Informatikdidaktik etwa eröffnet Studierenden Projekte, in denen weitgehend selbstständig gearbeitet werden kann: „Roberta – Mädchen erobern Roboter“ wird in Kooperation mit Schulen initiiert, „von Studierenden für SchülerInnen“. Die Studierenden selbstständig recherchieren, experimentieren und präsentieren zu lassen, gehört zu den zentralen Methoden im Lehrkonzept. Auf diesem Weg können alle ihre spezifische Qualifikation entfalten. „Die Möglichkeiten werden auch begeistert wahrgenommen“, sagt Prof. Dr.-Ing. Thomas Derhake, der im Studiengang Maschinenbau in den Bereichen Produktentwicklung und CAE lehrt. „Sehr hilfreich ist auch der dezidierte Praxisbezug.“ Unternehmen, die neue Produkte entwickeln, arbeiten dabei mit der FH zusammen. Auch hier spielt Diversity eine große Rolle: Für welche Zielgruppe wird das Produkt entwickelt und welche Bedürfnisse müssen deshalb berücksichtigt werden? „Die Studierenden lernen dabei, weniger selbstzentriert zu arbeiten, und werden offener“, sagt Derhake.
Was in möglichst allen Studienveranstaltungen ganz nebenher eingeflochten wurde, wird in den Modulen zu Gender und Diversity explizit thematisiert. Wer es etwas genauer wissen möchte, erfährt hier, was nach dem Examen für viele praxisrelevant wird: Chancengleichheit am Arbeitsplatz oder Vorteile der Strategie des Diversity Managements. „In einer zunehmend globalisierten und damit auch zunehmend heterogenen Gesellschaft“, so Schwarze, „ist es von Vorteil wenn ich weiß, was ich von meiner zukünftigen Arbeit erwarte und was von mir erwartet wird.“