LESERINNENBRIEFE
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Sie tragen Verantwortung

■ betr.: „Ramelow macht einen Fehler“, taz vom 2. 10. 14

Die DDR war auf Grund meiner (Familien-)Erfahrungen ein Unrechtsstaat. Wolfgang Leonhard zitiert in seinem Buch „Die Revolution entlässt ihre Kinder“ Walter Ulbricht mit der Aussage: „Es ist doch ganz klar: Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben.“ Es ist also nicht verwunderlich, dass die SED-Führung nur 100-prozentige Kandidaten bei der Ost-CDU, den Ost-Liberalen, der Bauernpartei usw. über ihre Kontrollinstitution der „Nationalen Front“ zuließ. Damit waren auch die „Blockföten“-Funktionäre Teil dieses diktatorischen Unrechtsstaates.

Einige schlagwortartige Beispiele: Die SED-Spitzenfunktionäre haben dafür gesorgt, dass bis 1951 Menschen mit einer eigenen Meinung als Systemgegner verhaften und den sowjetischen Tribunalen ausgeliefert wurden; damit nahmen sie Todesstrafen, Lagerhaft in Sibirien oder DDR-Gefängnisse billigend in Kauf; sie sorgten für Betriebsenteignungen von Handwerkern, Kaufleuten und Landwirten; sie sorgten dafür, dass Kinder aus bestimmten Bürgerschichten keine weiterführenden Schulen besuchen konnten; sie verhinderten bei Menschen mit religiöser Bindung ein berufliches Fortkommen; sie drohten bei Nichterscheinen zu den Staatsdemonstrationen und Aufmärschen mit Lohnkürzungen, Degradierungen u. a. m.; sie waren verantwortlich für die scheindemokratischen Wahlen; sie tragen Verantwortung für das ganze Stasisystem und die politischen Unrechtsurteile und vieles mehr! BERTHOLD NOESKE, Freiburg

Von Kretschmann getäuscht

■ betr.: „Auf eigene Rechnung“, taz vom 4. 10. 14

Amnesty International hat mit Pro Asyl kürzlich an die LandespolitikerInnen von Bündnis 90/Die Grünen und der Linken appelliert, eine Gesetzesinitiative zu verhindern, mit der die große Koalition Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina als sogenannte „sichere Herkunftsstaaten“ einstufen lassen will. Aber der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann hat mit seiner Zustimmung im Bundesrat bewirkt, dass der Asylkompromiss umgesetzt wird, obwohl im Grünen-Wahlprogramm zur Bundestagswahl 2013 steht, dass sie sich für einen besseren Schutz von Flüchtlingen einsetzen wollen. Das Gegenteil ist nun der Fall.

Das Grundrecht auf Asyl wird mit dem Asylkompromiss für Flüchtlinge aus Osteuropa abgeschafft. Flüchtlinge aus diesen Ländern finden nun keinen Schutz in Deutschland mehr und können besser abgeschoben werden. Die angeblich „sicheren Herkunftsländer“ gehen nicht korrekt mit ihren Minderheiten um, wie mit Sinti und Roma und Schwulen und Lesben. Man segnet Zustände ab, die menschenrechtlich nicht akzeptabel sind.

Die Zustimmung von Kretschmann bezeichnet Exparteichefin Claudia Roth als „rabenschwarzen Tag“ für die Grünen, denn sie fühlen sich zu Recht von der Vorgehensweise Kretschmanns in ihrem Anliegen nach einer humanen Flüchtlingspolitik getäuscht. Betreffend der Asylpolitik sollten grüne Landesregierungen und grüne Basis an einem Strang ziehen. Anderenfalls ist grüne Politik für WählerInnen nicht glaubwürdig. INGE ROCKENFELLER, Neuwied

Bahn ins inhaltliche Nichts

■ betr.: „Auf eigene Rechnung“, taz vom 4. 10. 14

Kretschmanns Argumentation für seine Zustimmung zum „Asylkompromiss“ ist willkürlich und schlecht begründet. Was aber nicht überraschend ist, da Begründungen, die auf Prinzipien zurückgehen, beim „pragmatischen“ Regieren stören. Ärgerlich ist nur, dass Herr Kretschmann sich dennoch das moralische Mäntelchen nicht ausziehen möchte und darauf verweist, was „er“ für die Asylsuchenden hierzulande erreicht habe und von seiner Verantwortung als Landesvater spricht. Mit „Verantwortung“ kann man aber so ziemlich alles begründen; man muss sich nur die vermeintlichen Konsequenzen so zurechtlegen, wie es einem in den Kram passt, und dann heiligt der Zweck alle Mittel. Natürlich sind die Verbesserungen zum Stichwort Residenzpflicht und Arbeitserlaubnis vernünftig und sinnvoll: Man hätte aber auch die Frage stellen können, wenn all die Landkreise in Baden-Württemberg, meist CDU-regiert, diese auch forderten, warum die CDU und die SPD in Berlin denn das Vernünftige nicht allein tun konnten, auch mal ganz unabhängig von den Grünen?

Letztlich steht Kretschmann ohne Kompass da: Ein Grüner, der tut, was die Umstände und die baden-württembergische Wirtschaft ihm nahe legen oder gar diktieren. Blind für alle Arten von Manipulation in der Mediengesellschaft zieht die grüne Realo-Elite ihre Bahn ins inhaltliche Nichts, in der auch eine Zustimmung zu TTIP für Kretschmann nicht unvorstellbar ist. MICHAH WEISSINGER, Essen

Wirklichen Geldadel verharmlost

■ betr.: „Der neue Geldadel“, taz vom 4. 10. 14

Was Gerechtigkeit angeht: Dass innerhalb von Familien erarbeiteter Wohlstand vererbt wird, kann man vielleicht ungerecht finden. Ich nenne das Solidarität innerhalb einer Generation. Was soll gerecht daran sein, Menschen die Früchte ihrer Lebensarbeit zu nehmen? Ist es gerecht, Menschen, die auf kleinem Fuß leben und dadurch Vermögen ansparen, das Ersparte zu neiden?

Den Begriff „Geldadel“ für Menschen zu verwenden, die vielleicht einmal eine kleine Immobilie erben, verharmlost erheblich den wirklichen Geldadel, der durch die ständig wachsende Einkommensungleichheit zwischen den oberen 5 Prozent und den restlichen 95 Prozent und durch die systembedingte Begünstigung großer und größter Kapitalvermögen entsteht. CHRISTOF HANKE, Bielefeld