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Archiv-Artikel

ZWISCHEN DEN RILLEN Ich möchte auf die andere Seite des Flusses

Ahmad Jamal featuring Yusef Lateef: „Live at the Olympia“ (Jazzbook/Harmonia mundi)

Es hat etwas Lüsternes, sich in Konzerte von Nestoren des US-Jazz zu begeben. Wird die einstmals saftige Klangfülle zu hören sein bei Stücken, die über Jahrzehnte eins geworden sind mit ihren Schöpfern? Oder schwingt bei solchen Erlebnissen ein den Exitus vorwegnehmendes Pathos mit, nach der Devise, es könnte das letzte Konzert gewesen sein.

Und dann passiert es: Das musikalische Geschehen lässt die lieb gewonnene Befangenheit zu Staub zerfallen und tritt eine Lawine aus Höreindrücken und Gefühlen los, der man sich staunend aussetzt.

Im August 2011 traten der 81-jährige Pianist Ahmad Jamal und der zehn Jahre ältere Tenorsaxofonist Yusef Lateef bei einem gemeinsamen Konzert am Jazzfestival im südfranzösischen Marciac auf. Dieses Ereignis sollte sich in Paris erneut zutragen, weshalb am 27. Juni 2012 im legendären Club Olympia eine Mischung aus Produzentenfantasien, exzellenter Aufnahmetechnik sowie ein ehrfürchtiges Publikum zusammenfielen.

Herausgekommen ist ein Doppelalbum inklusive Konzertfilm auf einer DVD. Wobei der Gastauftritt Lateefs nicht auf Jamals Performance abstrahlt, sondern er gibt im Nachhall deren Leere preis. Jamal plänkelt zunächst ein Programm aus Eigenkompositionen, Soundtracks und Jazzstandards über die Tasten. Er zelebriert versierte Routine und jene leichthändige Nachvollziehbarkeit, für die er in aller Welt verehrt wird.

Dann setzt sich Yusef Lateef – das lässt sich auf der DVD genau verfolgen – auf einen Stuhl, neben sich einen Tisch mit verschiedenen Holzflöten, die er zum Teil selbst hergestellt hat. Er beginnt auf dem Tenorsaxofon ein Zwiegespräch mit dem Perkussionisten Manolo Badrena, legt das Instrument auf den Boden und greift zu den Flöten.

Sein Hinhören, das Auf- und Abebben der wenigen Töne, die er spielt, locken den Schlagzeuger Herlin Riley und den Kontrabassisten Reginald Veal, beides meisterliche Begleitmusiker in anderen Bands, aus der Reserve. Sie beginnen selbst zu improvisieren und überlassen sich dem Verlauf des Stücks „Exatogi“ für mehr als zehn Minuten.

Lateef wehklagt mit der Stimme, schließlich singt er den Blues „Trouble in Mind“ und verkörpert die Wehklage stellvertretend für seine Zuhörer. „I wanna get to the other side of the River“ entweicht seinem Körper im nächsten Stück, wohlwissend, dass keine Religion Alleinanspruch auf den Gang über den Jordan hat.

Nach seinem Auftritt wiederholt Jamal eines der Eröffnungsstücke, als wolle er wieder geordnete Verhältnisse herstellen. Lateef und Jamal sind beide 1950 zum Islam konvertiert, beide lehnten zeitlebens das Wort Jazz für ihre Musik ab. Während Lateef von autophysiopsychic music sprach, betonte Jamal, es handle sich um American classical music. Beide lernten ihren eigenen Ton entlang der menschlichen Stimme zu entwickeln, wie ihre Vorbilder an Saxofon und Klavier zuvor mit den Tönungen und Phrasierungen von Jazzsängerinnen.

Jamal aber konnte Blasinstrumenten nie viel abgewinnen, Lateef zog es nach Nord- und Westafrika und in den Mittleren Osten, um mit seinem Instrumentarium auch seine Persönlichkeit zu erweitern. Im Olympia-Konzert strotzt Jamal vor Selbstgenügsamkeit, Lateef strahlt Demut aus vor seiner Praxis und ihrer weltlichen Einbettung. „Brother hold your light“, das bleibt auch nach seinem Tod im Dezember 2013 bestehen, Jamals endlos lange Finger hinterlassen auf der Klaviatur eine Politur ohne Körnung, ohne Rauheit. Wenn Jazz bedeutet, dass mit Kontroll- kein Gesichtsverlust einhergehen muss, mag Jamals strahlendes Lächeln beim Applaus nicht darüber hinwegtäuschen, dass jene Gerölllawine auf der inneren Klanglandkarte mehr Spuren hinterlässt.

FRANZISKA BUHRE