uli hannemann, liebling der massen : Der Jüngste Tag
Die Klimaberichte werden täglich abgefuckter, wie der Meteorologe sagt. Hieß es zunächst bloß, langsamer zu fahren und weniger zu furzen, fordert uns die aktuelle amtliche Apokalypse auf, ab sofort nur noch zu Fuß zu gehen und Knäckebrot zu essen. Andernfalls geht 2020 die Welt unter, und zwar buchstäblich.
Davon wollen natürlich viele nichts wissen. „Lasst endlich eure dreckigen Wichsgriffel von dieser verfickten Klimathematik“, stand kürzlich sinngemäß im Gästebuch der Reformbühne. Die Leute haben Angst, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. In bester Vogel-Strauß-Manier stecken sie den Kopf in den Sand, lüften den Bürzel und pupen, dass das Ozonloch wackelt. Menschlich verständlich – wir hoffen doch alle, dass das Unvorstellbare nicht eintrifft: Wir haben noch bis 2020 Zeit, und danach gehen alle den Bach runter. Buchstäblich. Aber ist das so unwichtig? Da sind doch auch Leute dabei, die ich mag. Und ich selbst ebenfalls. Ist doch voll traurig.
Aber, na gut, Schwamm drüber und anderes Thema. Schwermut weiche! Heute helau und nach mir die Sintflut. Buchstäblich. Wie wäre es also wieder mit so einem klassischen Standardthema à la „Wie ich neulich mal mit der U-Bahn gefahren bin und ganz was Komisches passiert ist“? Wenn ich aus U-Bahn U-Boot mache, kann ich das 2020 sogar noch mal vorlesen. Fragt sich nur, wie relevant solche Themen dann noch sind: Politik, Liebe, BVG, Klofrauen, Kinder, Maulwürfe, Zitroneneis, US-Präsidenten, ferne Länder – wozu? Alles eine Welt, die durch ihre plötzliche Begrenztheit nur noch eine vorübergehende und eigentlich abstrakte Bedeutung hat.
Ich denke, das Persönliche wird wieder eine größere Rolle spielen: Was fange ich mit diesem angebrochenen Leben ohne Zukunft, was mit den zahlreichen letzten Tagen an? Das muss ja alles gar nicht negativ sein – Stichwort „gepflegt mal die Sau rauslassen“. Viele bislang aus kleinkarierten Überlegungen zurückgestellte Vorhaben können nun endlich in Angriff genommen werden – je sinnloser, desto besser: Noch mal richtig Geld ausgeben, das mir nicht gehört, für Kram, den ich nicht will. Den Müll nicht mehr trennen. Stundenlang „Gott ist tot“ aus dem Fenster schreien. An jeder Blitzampel geduldig auf Rot warten und – zack! – rüber. Mit meiner Schwester vögeln. Abschiedsbriefe an die ganze Welt schreiben und nicht frankieren. Auf dem Dachboden ein Schiff bauen, mit Schlafkabinen für alle Tiere. Und last but not least, mir ausmalen, wie dieser Tag aussehen wird im Jahr 2020.
Es ist ein wunderschöner Sommertag. Im Grunde ist schon seit Jahren ein wunderschöner Sommertag – schade, dass es heute der letzte ist. Alle Menschen versammeln sich wie auf ein geheimes Kommando hin an der Reling der „Titanic“, die jetzt „Erde“ heißt, und entkleiden sich für den ultimativen Badetag. Viele machen auch noch mal Liebe – ich zum Beispiel mit meinem Nebenbuhler, ist doch jetzt auch schon egal. Versöhnung steht im Vordergrund. Das Wasser steigt. Wir fassen uns alle an den Händen und singen irgendwas Angemessenes – von mir aus „We all live in a yellow submarine“ oder die Nationalhymne von Atlantis. 10 Milliarden Menschen, Männer und Frauen, Religionen und Hautfarben: zum allerersten Mal wirklich eine große Familie – Homo Sapiens, Homo Billigflieger, Homo Tauchstation, im Untergang vereint. Solidarisch nehmen die Norweger die Japaner auf die Schulter. Die winken als Letzte noch mal in die aufgehende Sonne, die eine berauschende Finissage vor Publikum feiert. Ich bin 54 Jahre alt.